Die nicht mehr ganz blutjunge Ich-Erzählerin Diana wohnt zusammen mit ihrem behinderten Sohn, ihrer Mutter und Schwester, in Dagestan. Dianas Vater hat sich vor Jahren von der Familie verabschiedet. Keiner weiss, warum und wohin er gegangen ist. Die Ehefrau ist überzeugt, dass er eines Tages zurückkehren wird, denn er hat seine Lieblingspfeife zurückgelassen. Wäre er für immer gegangen, hätte er sie mitgenommen. So hält Dianas Mutter das grosse Steinhaus blitzsauber, fegt jeden Tag die Türschwelle, damit der Vater das Haus bei seiner Rückkehr in tadellosem Zustand und sauber vorfinden wird.
„Mutter wischte noch in der Eiseskälte mit blossen Händen unsere Türschwelle. Ihre Haut wurde rissig und sprang auf, kleine rote Linien in dunklem Braun. Die Fingernägel rot und die Finger. […] Wenn meine Schwester und meine Mutter nur mit einem Viertel ihrer Hingabe, mit der sie auf den Vater warteten, sich meinem Sohn gewidmet hätten, hätte diese Hingabe hinreichend genügt, um uns alle glücklich zu machen. Aber einer, der da ist, ist weitaus weniger spannend als einer, der verschwand.“
An den Vater erinnert sich Diana kaum, alles was von ihm geblieben ist, ist die grosse Bibliothek, mit den Regalen voller Bücher, die kaum angerührt werden dürfen. Der Mutter ist gar nicht recht, als ihre Tochter Notizen des Vaters zwischen den Buchseiten findet. Vielleicht findet sich in ihnen eine Spur, warum er gegangen ist? Ein Buch gehört sogar ihrer Mutter, das mit einer persönlichen Widmung des Vaters versehen ist. Als Diana ihre Mutter mit dem Buch konfrontiert, will sie nichts davon wissen. Kurzerhand verschliesst diese den Raum und nimmt den Schlüssel ab, worauf Diana versucht, die Tür mit allen Mitteln zu öffnen. Auch wenn sie den Inhalt vieler Bücher nicht versteht und sie nach einigen Seiten wieder beiseitelegt, ist die Bibliothek ihr Reich. Die Mutter hat sie nie lesen sehen und findet heraus, dass sie gar nicht lesen kann und deshalb die Schwester immer zu ihr geschickt hat, damit sie ihr Geschichten vorliest.
Das Verhältnis in der Familie kann man nicht als herzlich bezeichnen. Die Frauen kämpfen in einem Land ums Überleben, in dem eine Arbeitsstelle Mangelware ist und seinen Bewohnern deshalb keine sichere Existenz garantiert. Als Kind hat Diana gesehen, wie ihre Mutter Schmuck gegen Ware tauschte, damit es wieder für einige Zeit weitergehen konnte.
Obwohl Diana studiert hat, wird ihr Traum, als Theaterregisseurin zu arbeiten, zur Seifenblase, die zerplatzt. Während sie ihrer Freundin Nastja, die mit ihr studiert hat, zu Theaterrollen verhilft, schafft sie es selber nicht einmal zu einer Regieassistenz. Erst zu Hause, dann im Westen, beginnt sie ihren Körper als Prostituierte zu verkaufen. Es verschlägt sie irgendwann nach Wien, illegal versteht sich. Inzwischen hat sie Erfahrung und weiss, wie und wo man ungesehen über die Grenze kommt. Das versucht sie auch der Freundin klarzumachen, die ihr bald nach Wien nachfolgt.
Zuhause kümmern sich derweil Mutter und Schwester um Dianas Sohn, der regelmässig Medikamente benötigt, damit er nicht aggressiv wird. Alle ein, zwei Monate kehrt sie, mit einem vollbepackten Rucksack, nach Hause zurück, wo sie ungeduldig erwartet wird.
„In einem der Fenster leuchtet eine Kerze, leuchtet vermutlich für mich, damit ich als heimkehrendes Schiff nicht den Heimathafen verfehle und im Nebel verlorengehe, meine Fracht ist zu wichtig, als dass ich verlorengehen dürfte.“
Als sie bei einem ihrer Besuche erfährt, dass man ihren Sohn habe einsperren müssen, rastet sie aus, worauf ihr die Schwester ins Gesicht schleudert, dass dies nicht nötig gewesen wäre, wenn sie nicht ständig „in der Welt herumhuren“ würde.
Zurück in Wien, kommt es in der Bar, in der Diana hin und wieder arbeitet, zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung. Ausgerechnet einer der Polizeibeamten, die gerufen werden, bewahrt sie vor der Abschiebung. Leo glaubt an Horoskope und das aktuelle besagt, dass er eine gute Tat vollbringen müsse, was Diana in diesem Moment zugutekommt. Er könnte die Rettung für sie sein, der sichere Ankerplatz.
Leo ist jedoch schwerkrank und die Heilungschancen sind gering. Er lässt sich krankschreiben und ist überzeugt, an seinen Arbeitsplatz zurückkehren zu können. Mit Nastjas Hilfe, die kurzerhand als Wahrsagerin für Leo fungiert, kommt Diana an Geld und Waren für ihre Familie.
„Mit dieser Stimme der Madame Mireille hebt sie an, meine Bestellungen aus den bunten Kartenoberflächen herauszulesen, jede Enthüllung eine neue Botschaft, jedes Bild ein Schritt auf dem langen Weg. Seine Zukunft, seine Heilung, wenn er das täte und jenes und dann noch Folgendes“
Die Krankheit lässt Leo bald nicht mehr aus ihren Fängen und fesselt ihn geschwächt und auf Pflege angewiesen ans Bett. Diana wird zur Pflegerin.
„Ich will nicht, dass Leo gesund wird. Ich will ihn haben, ganz, mit Haut und Haar, aber nicht lange, so wie man sich absichtlich ein kurzlebiges Haustier nimmt und von Anfang an weiss, dass die Verantwortung nicht lange währen wird.
Wenn er gesund wird, braucht er weder meine Hilfe noch den Rat der Karten.“
Leos Abhängigkeit nützt sie aus, unterschlägt seine Post, Telefonanrufe und Besuche seiner Familie wimmelt sie ab. Allein er, ist für sie die Chance, im Land zu bleiben, um ihre eigene Familie weiterhin versorgen zu können. Die Hoffnung ist ein dünner Strohhalm, der vom Wind geknickt wird.
„Ich gehe langsam den Weg entlang und suche Leos Adresse. […] Da ist er. Sein Name auf seinem neuen Zuhause. Diesmal sind die Nachbarn anständig ruhig und die Rosen taufrisch. Ich fühle mich kurz um die Bedeutung meiner Rosen betrogen, was machen sie hier, hier wo es nichts Gutes mehr gibt, nichts, was mein Zuhause werden könnte, nichts, was es wert wäre da zu sein. Neben der Steinplatte brennt ein rotes ewiges Licht, das mich sofort an das rote Licht erinnert, indem wir uns das erste Mal gesehen haben, mein ewiges rote Licht ist also nicht anders als seines.“
Der Roman ist in zwei Teile gegliedert, in „Davor“ und „Danach“. Nach Leos Tod bleibt Diana der Zugang zu dessen Wohnung verwehrt. Das Schloss wurde ausgewechselt – sie kommt nicht mehr an ihre wenigen Habseligkeiten. Längst ist sie selber krank von der Arbeit auf der Strasse und landet im Spital. Bei den Sitzungen beim Psychologen erfährt sie, dass sie schon mehrere Wochen hier ist. Die Zeit ist ihr entglitten. Ihr wird klar gemacht, dass sie vor einer Abschiebung nur sicher ist, solange man sie hier behält.
„Eigenartig ist, dass oben plötzlich unten ist, links rechts und schwarz weiss, ich bin nicht mehr die, die pflegt und sorgt und arbeitet, im Gegenteil, ich werde gepflegt, ich werde bearbeitet, ich werde umsorgt. Alle meine Pflichten haben sich kurzfristig in Passivität umgekehrt.“
Als Diana kurz darauf erfährt, dass ihr Sohn inzwischen in eine staatliche Anstalt gebracht wurde, verlässt sie heimlich und überstürzt die Klinik. Völlig verwirrt und frierend irrt sie umher und hungrig wie sie ist, wird sie zur Diebin und buchstäblich zur Erdfresserin.
Julya Rabinowich hat einen Roman vorgelegt, bei dem gewissen Passagen nicht einfach zu lesen sind. Trotzdem, je länger ich in die Erzählung eintauchte, desto mehr zog mich die Erzählweise, die sehr poetisch ist, in ihren Sog. Gerade dadurch, dass ich etliche Textpassagen noch ein zweites Mal in aller Ruhe gelesen habe, erhielt ich den Eindruck, den Roman besser zu verstehen. Was mir etwas gefehlt hat, war, was mit dem Vater des Kindes passiert ist, denn darüber verliert sie kein Wort, ebenso wenig erfährt man über ihren Sohn. Die Vergangenheit wird sonst eindringlich beschrieben. Es ist zu spüren, wie schmerzlich Diana ihren Vater zu vermissen scheint, obwohl oder gerade weil sie sich kaum an ihn erinnern kann. Rabinowich vermittelte mir das Gefühl, dass ich die Kraftlosigkeit der Ich-Erzählerin mit jeder Rückkehr nach Hause, förmlich spüren konnte. Wie viel einfacher wäre es für sie gewesen, sich einfach hinzusetzen und, wie sie es einmal tat, und zu sagen „ich bleibe hier“. Den Lebensunterhalt für die Familie in einem fremden Land verdienen zu müssen, in der Illegalität, mit der ständigen Angst im Nacken, kontrolliert und schliesslich abgeschoben zu werden – das braucht Kraft und im Fall der Protagonistin endete dies in ihrem Zusammenbruch.
Julya Rabinowich wurde 1970 in der damaligen Sowjetunion, in Leningrad. geboren und kam mit sieben Jahren, mit ihren Eltern, nach Wien, wo sie heute noch lebt. Ähnlich wie die Autorin Irena Brežná hat auch Rabinowich als Dolmetscherin mit Flüchtlingen gearbeitet und sie bei Therapien begleitet. „Die Erdfresserin“ ist ihr dritter Roman und ist im Zsolnay Verlag erschienen.
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Ich habe Spaltkopf und die Herznovelle gelesen (deren Cover – nebenbei bemerkt – wie auch bei der Erdfresserin ganz wunderbar gestaltet sind, wie ich finde): Rabinowichs Debütroman hat mich – sowohl thematisch als auch sprachlich – tief beeindruckt, ihr zweites Buch ließ mich hingegen etwas ratlos zurück; ich habe das Gefühl, dass das dritte vom Leseeindruck her eine Mischung aus den anderen beiden sein könnte. Was ich bei Rabinowich beachtlich finde, ist ihre Sprache – sehr kraftvoll, sehr ungewöhnlich, ja, geradezu gewöhnungsbedürftig, überraschend, mitunter brutal, andere Male weich, poetisch. Die Erdfresserin habe ich deshalb auch auf jedem Fall im Blick, nach deiner schönen Rezension erst recht.
Ich habe es in der Rezension zwar nicht erwähnt, aber tatsächlich ist die Sprache manchmal brutal, passt aber in diesem Roman auch dazu. Es wird ja keiner mit Samthandschuhen angefasst, am wenigsten die Protagonistin. Ihre ersten zwei Bücher habe ich nicht gelesen. Über „Spaltkopf“ werde ich einmal nachlesen, worum es da geht, der Titel ist mir nämlich ein Begriff.
Vielen Dank für deinen interessanten Kommentar und deine Meinung würde mich sehr interessieren, solltest du dich dazu entscheiden „Die Erdfresserin“ zu lesen.
Herzlich buechermaniac
Hier habe ich ein paar Gedanken zu Spaltkopf gesammelt, vielleicht wecken sie ja deine Neugier.
Vielen Dank für den Link, den werde ich mir gerne ansehen:)
Seitdem ich dieses Buch in Deiner Ankündigung entdeckte, liebe Büchermaniac, bin ich gespannt auf Deine Rezension.
Die Autorin habe ich beim vorjährigen Bachmannwettbewerb gesehen. Sie las damals ein Stück aus diesem Roman. Ich war sehr irritiert, was zwar zum Teil auch an äußeren Dingen wie dem Lesezeitpunkt lag, aber doch zum Großteil am Text. Er wirkte auf mich ziemlich verrückt und durchgeknallt. Nachdem ich Deine Zusammenfassung gelesen habe, wird er wohl aus dem hinteren Teil des Romans stammen. Dank Deines Beitrags weiß ich jetzt, worum es geht. Manchmal ist es doch gut, daß wir nicht alle die gleichen Bücher lesen. 😉
Der zweite Teil „Danach“ ist tatsächlich teilweise schräg und vielleicht nicht durch und durch verständlich. Ich habe mir die Textpassage, den die Autorin am Bachmannwettbewerb vorgetragen hat, nicht angehört, sondern nur die Diskussion der Jury und die Meinungen waren damals ja sehr kontrovers. Trotzdem liess ich es mir nicht nehmen, den Roman schliesslich zu lesen und wie ich schon im Beitrag erwähnt habe, als ich das Buch stellenweise nochmals las, entdeckte ich es erst richtig. Auf alle Fälle verlangt der Roman Konzentration und keine Ablenkung, jedenfalls hat sich das für mich so bestätigt.
Das bringst Du auch in Deiner Besprechung zum Ausdruck.
Mich würde interessieren, was das Leseinteresse an diesen Roman in Dir geweckt hat. War es der Bewerb oder die kontroverse Diskussion oder etwas anderes?
Dass die Autorin am Wettbewerb teilnahm wusste ich nicht, als ich mich für den Roman interessierte. Der Titel und die Inhaltsangabe erweckten meine Aufmerksamkeit und mein Interesse. Und nur deshalb wollte ich dieses Buch lesen. Erst im Nachhinein habe ich mir die Diskussion im Internet angeschaut, also ging ich unvoreingenommen an „Die Erdfresserin“ heran.
Danke für die Auskunft.
Ciao, Atalante
Ich habe das Buch bereits im Regal stehen, liebe buechermaniac und deine Besprechung mit sehr viel Interesse gelesen. Die ausgewählten Zitate haben bei mir bereits Lust und Neugier auf das Buch ausgelöst und ich bin schon sehr gespannt, wie es mir gefallen wird! 🙂
Dann warte ich gespannt auf deine Meinung, liebe Mara. Ich gehe davon aus, dass du das Buch ebenfalls rezensieren wirst. Ich wünsche dir ein schönes Leseerlebnis mit „Der Erdfresserin“, auch wenn der Roman unter die Haut geht.
Herzlich buechermaniac
Ich rezensiere grundsätzlich alles, was ich lese (außer die Lektüre, die ich für das Studium oder die Arbeit lesen muss), also wirst du in den nächsten Wochen sicherlich eine Besprechung dazu lesen. Ich hatte mich bisher noch nicht ran gewagt und eher zu „leichterer“ Lektüre gegriffen, deine Besprechung hat mir aber Mut gemacht, das Buch in Angriff zu nehmen!
Du wirst die Lektüre ganz sicher nicht bereuen. Ich würde behaupten, du hast schon schwerere Kost gelesen als dieses Buch, wenn ich mich so zurückerinnere. Also, pack es ruhig an.
Danke, das ist wieder ein sehr interessanter Hinweis und das Buch ist auf meine Wunschliste bei Amazon gewandert! Zeitgeschichte ist etwas, was ich zum Teil nur aus der Tageszeitung warnehme und so habe ich großes Interesse an dem Buch!
Ich hoffe, dass das Buch nicht nur auf der Wunschliste bleibt, liebe Susanne 😉