„Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, begann mein Grossvater mich lesen und schreiben zu lehren.“
Alexej Peschkow wie Maxim Gorki mit bürgerlichem Namen hiess, lernte in drei Tagen das Alphabet, zuerst das phonetische. Danach wurden aus Buchstaben Silben und diese schliesslich zu Wörtern. Wenn der Junge Wörter falsch aussprach wurde er von seinem strengen Grossvater oft mit der Rute geschlagen oder er wurde an den Haaren gezogen, wenn er Fehler machte und sich dabei auch noch erheiterte. Als nächstes zog der Grossvater den Psalter hervor und nach weiteren vier Monaten kannte sein Enkel nicht nur das gebräuchliche Alphabet, sondern auch die Kirchenschrift, die in altslawisch abgefasst war. Danach war sein Bedarf an Lesen und Büchern erst einmal gedeckt.
Im Herbst wurde er eingeschult, doch die Windpocken bescherten ihm ein kurzes Schuljahr und als das neue begann, kam er auch schon in eine andere Schule. In der ersten Reihe sitzend, konzentrierte sich der „glatzköpfige und gelb aussehende“ Lehrer hauptsächlich auf Alexej. Diese Aufmerksamkeit zahlte der Junge seinem Lehrer mit etlichen Streichen heim. Im Religionsunterricht hatte es auch der junge Pope auf ihn abgesehen und schickte ihn aus der Klasse, da er keine Bibel von zuhause mitgebracht hatte. Es schien ganz so, als würde Alexej, wegen schlechtem Betragen, aus der Schule fliegen. Seine Rettung war der Besuch des Bischofs in der Klasse. Er hatte für die Schüler ein offenes Ohr, vor allem aber für Alexej. Der Bischof gab ihm einen persönlichen Rat und so kam es, dass der Junge sich Mühe gab, aufmerksamer zu sein und er konnte die Schule fortsetzen.
Als seine Mutter starb, nahm ihn der Grossvater von der Schule und er musste bei einem Zeichner in die Lehre. Er kam „unter fremde Menschen“. Für eine Weile hatte er keine Lust mehr auf Bücher und auch keine Zeit, denn die Arbeit war hart. Mit vierzehn Jahren änderte sich sein Verhältnis zum Lesen wieder. Er begann bewusst zu lesen und dachte darüber nach, welche Absicht der Autor mit dem Buch verfolgte, denn das Geschriebene stand in einem Widerspruch zum wahren Leben, das er mitbekam. Um ihn herum wohnten Bauarbeiter, die im Kellerloch wohnten, die anderen „besseren Leute“ waren allenfalls Offiziere, Hasardeure und Säufer, die ihre Geliebten verprügelten. An den freien Tagen frönten die Menschen hauptsächlich dem Essen, gingen zur Kirche und die Männer prügelten sich blutig.
„Die Arbeiter krochen ergeben in ihren Keller zurück. Sie waren trübselige Leute, die selten lachten, fast nie sangen und kurz und ungern redeten; stets voll Erde, erschienen sie mir wie Tote, die man gegen ihren Willen zum Leben erweckt hatte – nur, um sie noch ein ganzes Leben lang zu quälen.“
Um den jungen Alexej herum bestand das Leben aus Elend, Schmutz, Armut und Resignation. Er verspürte zwar Mitleid mit diesen Menschen, aber doch nicht so, als dass er sich mit ihnen unterhalten hätte – worüber auch. Er zog sich in der spärlichen Freizeit in seine Welt der Bücher zurück, bis ihn eines Tages der alte Stepan Leschin, den keiner mochte, aber alle fürchteten, ansprach und nachfragte, was er denn da lese. Alexej sah dem Mann an, dass es ihn wirklich interessierte und er begann zu erzählen. Manchmal zweifelte der Junge am Inhalt der Bücher und sprach auch darüber mit Leschin. Als der Alte ihm erklärte, dass es das, was er gelesen hatte, im wahren Leben auch gebe und er selbst anfing Geschichten zu erzählen, wurde Alexej hellhörig. Wie konnte er auch ahnen, dass es auch gute Menschen und Schönheit im Leben gab, da er doch nur Raufbolde und arme Hunde um sich hatte.
„Diese Entdeckung bereitete mir eine ungeheure Freude; ich begann alles heiterer und irgendwie gütiger zu betrachten, ich wurde aufmerksamer zu den Menschen, und wenn ich etwas Gutes und festlich Stimmendes gelesen hatte, bemühte ich mich, es den Erdarbeitern und den Burschen nahezubringen. Sie hatten keine sonderlich grosse Lust, mir zuzuhören, und ich hatte den Eindruck, dass sie mir auch nicht glaubten, aber Stepan Leschin wiederholte immer wieder: „Das gibt es, es gibt alles, mein Lieber!“
Alexej las immer mehr, und griff zusehends auch zu Zeitschriften. So entdeckte er noch eine andere Welt, tauchte ein in Geschichten anderer Länder und deren Menschen und erfuhr wie es sich dort lebte und wie die Welt sich entwickelte. Als er über einen Mann namens Faraday las, der es vom einfachen Arbeiter zum Gelehrten gebracht hatte, staunte er nicht schlecht. Er las ein Buch um das andere und erzählte auch den Arbeitern davon, oft, indem er jede einzelne Person wie im Theater darstellte. Es gab Momente, da hörten ihm die Männer aufmerksam zu und eines Tages nahm ihn ein wilder Bursche zur Seite und verlangte, dass er ihm das Lesen beibringen solle. Fünf Wochen später kam dieser mit einem Zettel angerannt, den er von einem Zaun gerissen hatte und las langsam vor, was da geschrieben stand. Was war das für ein erhabenes Gefühl für diesen einfachen Mann – er konnte tatsächlich lesen.
„Wie ich lesen lernte“ entstand nach einer Rede, die Maxim Gorki 1918 in Petrograd gehalten hat. Ursprünglich hiess die Erzählung „Die Bücher“. In Maxim Gorkis Erzählung ist seine Begeisterung für Bücher und das Wissen, das sie vermitteln können, auf jeder Seite zu spüren. Da sprühen Funken, denn der Schriftsteller liebte das geschriebene Wort über alle Massen. Es wurde ihm durch seine eigenen Erfahrungen bewusst, dass Lesen für die Bildung der Menschen von grosser Wichtigkeit ist und dadurch das Leben entscheidend verändern kann. Gorki hat mein Gesicht mit jeder Seite, die ich las, mehr zum Strahlen gebracht. Ich habe mich quasi mit ihm mitgefreut und kann mir gut vorstellen, wie er 1918 seine Rede vor Publikum hielt.
Die Erzählung ist den Gesammelten Werken Maxim Gorkis im Aufbau Verlag, Berlin 1955, entnommen. Ich habe sie, wie schon den Text von Božena Němcová, in der fadengehefteten Broschüre, vom Verlag Friedenauer Presse, gelesen.
„Und in tiefem Glauben an die Richtigkeit meiner Überzeugung möchte ich allen zurufen: Liebt das Buch, es erleichtert euch das Leben, es wird euch helfen, sich in dem bunten und stümrischen Wirrwarr der Gedanken, Gefühle und Ereignisse zurechtzufinden, es wird euch lehren, den Menschen und sich selbst zu achten, und die Liebe zur Welt und den Menschen wird euer Herz und euren Verstand beflügeln.“
Maxim Gorki „Wie ich lesen lernte“
Friedenauer Presse
16 Seiten
ISBN 3-921592-07-0
Das BUCH habe ich auch und geLESE(n)….sehr informativ…..danke..HERZlichst ANDREA:))
Tja, russische Autoren, Maxim Gorki eingeschlossem. sind mir bis heute relativ fremd. Dein Beitrag, noch dazu zu dem spannenden Thema „Wie ich lesen lernte“, könnte etwas in Bewegung setzen … LG, Ingrid
Russland hat grossartige Autoren und wenn du sie noch nicht kennst, dann wäre es schön, wenn du den einen oder anderen für dich entdecken würdest. Und solltest du Klassiker nicht so mögen, dann kann ich dir vor allem Ludmilla Ulitzkaja sehr empfehlen. Es müssen ja nicht immer nur Autoren sein. Auch von Tolstojs Frau habe ich schon einen Roman gelesen, denn auch sie konnte schreiben.
Viel Freude auf der Entdeckungsreise.
Liebe Grüsse
buechermaniac
Danke für diese spannenden und faszinierenden Einblicke in das Leben von Maxim Gorki, den ich – muss ich zu meiner Schande gestehen – bisher noch gar nicht kannte.
Liebe Mara
Auch wenn man viel liest, so wie du, kann man ja nicht alle kennen. Obwohl Maxim Gorki dann doch zu den Klassikern gehört ;). Vielleicht liest du ja irgendwann etwas von ihm.
Liebe Grüsse aus dem „Süden“
buechermaniac
Was für eine Lebens-Geschichte. Ein Wunder, dass er die Welt der Bücher so lieben gelernt hat – nach der Anfangserfahrung. Also ist es wohl mal wieder an der Zeit Gorki (neu) zu entdecken… Herzliche Grüße von Mila
Die Neugier auf Wissen und die Entdeckung der Welt in jeglicher Form war schlussendlich grösser als die Qual, die Gorki beim Erlernen des Alphabets über sich ergehen lassen musste.
Sonnige Grüsse
buechermaniac
Danke für diesen Einblick, buechermaniac, er hat mir Maxim Groki näher gebracht.
Einen schönen Tag dir, Susanne
Ich wünsche dir ebenfalls einen sonnigen Tag.
LG buechermaniac