Nicht den eisernen, sondern den eisigen Vorhang konnte ich heute in den Alpen fotografieren. Es hängen teilweise extrem lange Eiszapfen an den Dächern, so dass sich schon ein Helm empfiehlt, sollte sich einer dieser Dinge lösen.
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Ein Vulkanausbruch und seine Folgen
Sie stand auf der Short List für den „Deutschen Buchpreis“ und für den „Schweizer Buchpreis“ 2014. Beide Preise hat sie zwar nicht gewonnen, erhielt dafür den „Roswitha-Preis“, der der älteste deutschsprachige Literaturpreis ist, der an Frauen vergeben wird. Mehr zu diesem Preis findet ihr hier.
Die Rede ist von Gertrud Leutenegger, Schweizer Schriftstellerin, 1948 in Schwyz geboren und die ursprünglich Regie studiert hat. Sie lebte in der französischen und mehr als zwanzig Jahre in der italienischen Schweiz. Heute lebt sie in Zürich. Die Autorin kam für eine Lesung mit ihrem neuesten Roman „Panischer Frühling“ in unsere Stadtbibliothek. Der Germanist Prof. Heinrich Boxler stellte die Autorin dem Publikum vor, erwähnte Preise, die sie erhalten hat und vor allem, dass ihn der so eben erhaltene Preis besonders freue, den Roswitha-Preis, denn seine Frau heisse nämlich ebenfalls Roswitha, was die Autorin und das Publikum erheiterte. Er erwähnte aus den rund fünfzehn Büchern, die Leutenegger inzwischen geschrieben hat, einige Titel, die ihm sehr ans Herz gewachsen sind, darunter „Pomona“, „Matutin“ oder „Meduse“. Dieses Buch wurde ihm einst gestohlen und er habe es erneut gekauft, da es sein liebstes von Leutenegger sei und deswegen in seiner Bibliothek nicht fehlen dürfe.
Die Autorin las danach längere Passagen aus „Panischer Frühling“ vor. Die Handlung ist im Frühling 2010 angesiedelt, als in Island der Vulkan Eyjafjallajökull ausbrach und den Flugverkehr in weiten Teilen Europas völlig lahmlegte. Zu dieser Zeit begibt sich eine namenlose Ich-Erzählerin auf lange Spaziergänge durch die Strassen Londons und begegnet einem jungen Mann, namens Jonathan, der die Obdachlosenzeitung verkauft.
„Die herausgeschleuderten Aschewolken nahmen mehr und mehr das Aussehen eines Atompilzes an, doch draussen glänzte ein ungetrübter Frühlingshimmel, und auch ich spürte etwas von jener seltsamen Aufgeräumtheit, die Menschen manchmal beim Hören von einer Katastrophe, ist sie nur weit genug entfernt, erfasst.“
Die Ich-Erzählerin und Jonathan beginnen, sich gegenseitig Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Jonathan, der seit seiner Geburt im Gesicht durch ein schreckliches Feuermal entstellt ist, erzählt aus seiner Heimat Cornwall und der Zeit in Penzance, die er bei seiner Grossmutter verbracht hat.
„Mein Entsetzen war um so grösser, als das Profil des jungen Mannes, aus einer fernen Epoche herkommend, mich unwillkürlich angezogen hatte. Die eine Wangenseite, die anfänglich durch das volle Haar versteckt gewesen war, bot sich geschwollen und wie von Fäule befallen dar, als würde sie von innen her von einem Tier zerfressen.“
Die Ich-Erzählerin taucht in ihre Kinder- und Jugendzeit in der Schweiz ein und erinnert sich an die Sommer, die sie mit der Familie bei ihrem Onkel im Pfarrhaus verbracht hat. Ebenso ausgeprägt und sehr poetisch werden die Spaziergänge, die die Ich-Erzählerin durch die Strassen des East End, durch die Parks und der entlang der Themse unternimmt, beschrieben.
Ich hätte der Autorin, die eine sehr angenehme Lesestimme hat, stundenlang zuhören mögen. Die sympathische Autorin erzählt nach der Lesung ausführlich und mit grosser Begeisterung wie es zu ihrem Roman „Panischer Frühling“ gekommen ist. Eigentlich wollte sie ein Buch über Bäume schreiben. Die schönsten Bäume befinden sich in England und so flog sie nach London, just fünf Tage vor dem Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull. Auf ihren Wanderungen durch die Stadt begegnete sie dann tatsächlich einem Zeitungsverkäufer, der ein Feuermal hatte und reiste zweimal nach Penzance, um sich vor Ort über die Herkunft des Zeitungsverkäufers ein Bild zu machen. Überhaupt fällt bei ihren Erläuterungen auf, dass sie sich sehr gewissenhaft mit Recherche befasst.
Das Pfarrhaus, das erwähnt wird, ist ebenso real. Ihr Onkel war Pfarrer in der Gemeinde Sarnen. Hier verbrachte sie von zwei bis siebzehn Jahren, zusammen mit ihrer Familie, die Sommerferien. Mit ihrer Schwester und Mutter schlief sie im roten Saal, das eigentlich für den Bischof vorgesehen war, und der Vater im Waldzimmer, so nannten sie den Raum, da die Tapete Darstellungen von Bäumen zeigte.
Der Titel „Panischer Frühling“ ist kein Zufall, hat er doch eine Verbindung zum griechischen Hirtengott Pan, dem entstellten Gott, dem die Hirten Opfer brachten, damit er ihre Herden beschütze und die sich gleichzeitig vor ihm fürchteten, da er ihre Herden, wenn er erzürnt war, in die Flucht trieb. So ähnlich erging es der Ich-Erzählerin im Roman, die Jonathans Feuermal erschreckte und trotzdem immer wieder zu diesem jungen Mann zurückkehrte, um sich mit ihm zu unterhalten. Mit anderen Worten, der Roman hat viele autobiographische Züge. Und wenn es auch einen Kritiker im „Literatuclub“ gab, der den Roman als anachronistisch bezeichnete, kann ich den Roman mit gutem Gewissen empfehlen und Heinrich Boxlers Begeisterung für das Werk der Autorin nachempfinden.
Paul Auster zu Besuch in Zürich
Das Literatur-Festival „Zürich liest“ 2014 ist bereits wieder Geschichte. Bereits am Freitagabend durften die Besucher des Festivals ein erstes Highlight der Literatur geniessen. Paul Auster, der bereits wieder mitten in einem neuen Romanprojekt steckt, nahm sich trotzdem die Zeit, und beehrte Zürich mit einem Besuch. Er musste ein Versprechen einlösen, dem er mit seinem Auftritt nachkam, was seine Fans natürlich freute.
An erhöhter Lage, nämlich im Theater Rigiblick, einem Ort über den Dächern von Zürich und mit Blick über die Stadt und in die Berge, fand die Lesung mit anschliessendem Gespräch statt. Elisabeth Bronfen, Professorin für Anglistik und Lehrstuhlinhaberin am Englischen Seminar der Universität Zürich, machte eine Einführung zu einigen Orten, an denen Paul Auster gelebt hat und fand es aufregend neben einem ihrer bevorzugten Autoren zu sitzen. Sie meinte, dass sie die Einzige sei, die ihm heute Abend Fragen stellen könne „we don’t take questions from the audience!“. Bevor Paul Auster die Lesung begann, betonte er jedoch, wenn er Bücher signiere werde er sehr wohl mit dem Publikum sprechen.
Eigentlich war gemäss Programm vorgesehen, dass er aus einem unveröffentlichten Werk lesen sollte. Da Paul Auster dachte, dass die Veranstaltung zweisprachig durchgeführt würde und der Text ja noch nicht ins Deutsche übersetzt sei, lasse er das Manuskript zuhause. Wenn es einfach gewesen wäre, wäre Auster schnell nach Brooklyn gedüst und in zehn Minuten wieder mit seinem Text zurückgekehrt, wie er meinte. So las er denn aus seinem autobiographischen Werk „Winterjournal“ und aus den „Gesammelten Erzählungen“ den Text „White Spaces“, der im Jahr 1978 entstanden ist.
Nach der Lesung stellte er sich den Fragen von Elisabeth Bronfen, die ziemlich aufgekratzt wirkte. Die Moderatorin wollte wissen, ob er sagen könne, woran er im Moment arbeite. Nach fünf autobiographischen Werken sitzt Paul Auster wieder an einem Roman, an dem er schon seit eineinhalb Jahren dran ist und es vielleicht noch könne noch weitere zweieinhalb Jahre dauern. Eigentlich seien es vier Bücher in einem. Es soll die Geschichte eines Mannes und seiner Familie erzählen. Der Mann ist jetzt gerade in der High-School und er habe schon fünfhundert Seiten geschrieben. Ob das ein Dreitausend-Seiten Roman geben werde, wollte Bronfen wissen. Nein, nein, vielleicht tausendeinhundert Seiten, meinte Auster. Er habe noch keine Ahnung, wohin ihn die Reise beim Schreiben führen werde. Es sei ein Abenteuer, jeder Tag bringe etwas Neues.
Paul Auster schreibt nach wie vor seine Texte alle von Hand. Im Zeitalter von Computer scheint das eher ungewöhnlich, für ihn ist dies jedoch ganz normal, schliesslich habe jeder von uns einmal angefangen, mit Feder und Bleistift zu schreiben. Seit er ein Teenager von fünfzehn Jahren war und mit Schreiben begann, keine Schreibmaschine zur Verfügung stand, schrieb er von Hand und es füllte sich gut an. Mit einem Keyboard komme er nicht zurecht. Für ihn sind die Hand, die einen Stift führt und das Hirn eng miteinander verbunden. Es sei ein schönes Gefühl zu sehen, wie sich die Buchstaben ins Papier eingraphieren würden. Danach hackt er die Texte noch in seine Schreibmaschine. Jemand tippt dann das Geschriebene für den Verlag noch am Computer. Bronfen wollte ihm unterstellen, dass er im Zweifingersystem schreibe. Da widersprach er vehement, denn er hat schon an der Junior High-School einen Schreibmaschinenkurs belegt, das sei das Beste gewesen, das er gelernt habe. Es sei doch eigentlich völlig egal, ob ein Text handschriftlich verfasst werde oder am Computer, wichtig sei bloss, dass es funktioniere.
Dann die Frage, wie er zu den Themen für seine Bücher komme. Es fange plötzlich etwas zu Summen in seinem Kopf und er wisse noch nicht was es sei. Dann höre er plötzlich diese Musik, die Musik eines Buches. Das seien weniger gewisse Situationen, als eher Charaktere, die entstehen würden. Irgendwann beginne er zu schreiben und manchmal rufe ihm ein Charakter zu „Gib mir ein Leben, bring mich zu Papier, ich möchte atmen“.
Er erzählt von seiner Liebe zum Film, gibt auch die eine oder andere Anekdote zum Besten, wofür er Lacher erntet, schneidet kurz die Politik und die Wirtschaft Amerikas an, die so sehr mit der Europas gekoppelt ist und nicht alles so läuft, wie es sollte. Ein interessanter und unterhaltsamer Abend mit Paul Auster geht mit der Signierung seiner Bücher – und es sollen doch bitte nicht mehr als fünf Bücher zum Signieren vorgelegt werden – nach fast eineinhalb Stunden zu Ende. Ich gebe mich deshalb mit zwei signierten Büchern zufrieden 😉
Sie dreht sich um
Anna, Anfang Fünfzig erfährt soeben von ihrem Mann Georg, dass dieser ein Verhältnis mit einer jungen Referendarin hat und „Sie wünscht ein Kind von mir“ in den Raum stellt. Das ist für Anna ein dicker Brocken und fluchtartig packt sie ihre Taschen und bucht den ersten Flug, der sie fortträgt von diesen Worten. So landet die Journalistin in Edinburgh, in einer Stadt, in der sie noch nie war. Schon immer eine grosse Kunstliebhaberin besucht sie die National Gallery und ist lange in die Betrachtung der Bilder vertieft. Ein Bild von Gaugin hat es ihr besonders angetan, denn eine der gemalten Bretoninnen, scheint sich zu ihr umzudrehen und zu ihr zu sprechen. So kehrt sie immer wieder zu diesem Bild zurück, wenn sie sich nicht in ihrem Zimmer vergräbt und in gekauften Kunstführern liest.
Offiziell hat Anna sich in den Himalaya für eine Recherchereise begeben und ist für keinen erreichbar, nicht einmal für ihre erwachsenen Kinder.
„Bilder verändern sich nicht. Bilder sind so da, wie sie gemalt worden sind. Dann werden sie angesehen von vielen Menschen. Sie verstauben. Werden geputzt. Umgehängt. Sie sind begehrt und gehen auf Reisen zu anderen Museen. Wo sie auch sind, wer vor ihnen steht, sie sind dieselben über ein Jahr, ein Jahrhundert, ein Jahrtausend. Gut, sie altern, sie dunkeln nach. Doch ist das, was auf ihnen zu sehen ist, lange auf ihnen zu sehen. Auch Bilder, die eine Geschichte erzählen, sind stumm.“
So begibt sich Anna, wie die Bilder, auf Reisen. Sie bleibt nicht in Edinburgh, sondern folgt dem Bretonischen Mädchen, dessen Erschaffer eine dänische Frau hatte, nach Kopenhagen, wo sie erneut in die Kunstwelt eintaucht. Meist ergreift sie die Flucht, wenn andere Touristen ihr den Blick auf ein Bild versperren. Mit anderen Menschen spricht sie kaum, ausser hier in Kopenhagen, wo sie einen Mann kennenlernt und eine Nacht mit ihm verbringt. Obwohl sie der Mann bittet, ihn nach Basel zu begleiten, packt sie kurz entschlossen erneut ihre Koffer und fliegt nach Boston.
„Er konnte es ja nicht verstehen. Es ging nicht um mehr als genug Bilder, es ging immer nur um das eine Bild. Es ging um einen Wink fürs Weiterkommen. Eine Grundregel des Spiels war, das zumindest glaubte sie mittlerweile verstanden zu haben, auf die Notwendigkeit des Zufalls zu achten.“
So führt sie ihre Reise immer weiter, wo sie vor Bildern innehält, auf denen Menschen mit dem Rücken zum Betrachter abgebildet sind und sich irgendwann zu ihr drehen und ihr ihre eigene Geschichte erzählen – wie das Bild entstanden ist oder etwas über den Maler, der sie erschaffen hat. Das ganze klingt wie ein Spiel, doch die Reise zwingt sie, sich mit ihrem eigenen Leben auseinanderzusetzen, zu reflektieren, was mit ihrer Ehe passiert ist, was sie mit ihrem Mann Georg noch verband oder von ihm trennte. Sie fühlte sich ihm immer unterlegen. Georg, der Altphilologe ist sprachgewandt und selbstsicher, sie hingegen glaubte schon zu Studienzeiten für gewisse Leute nicht intelligent genug zu sein, um sich mit ihnen in ein Gespräch einzulassen.
Nach Amerika kehrt sie nach Europa zurück. Über Zürich führt sie der Weg nach St. Moritz, wo sie das Segantini-Museum aufsucht. Durch eine Französin führt ihr Weg nach Paris und schliesslich nochmals nach Dänemark, wo ihre Reise in Skagen enden wird, nicht nur weil auf der äussersten Landzunge, wo Kattegat und Skagerak ein Weiterkommen verhindern, sondern weil es nach vier Wochen Zeit wird, sich zu entscheiden.
Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und lebt heute in Sent, im Kanton Graubünden. „Sie dreht sich um“ ist ihr dritter Roman.
Der Roman lässt mich ein wenig zwiespältig und ratlos zurück. Ist es die Geschichte von Anna, einer enttäuschten Ehefrau, die über ihr Leben und wie es scheint, über die missglückte Ehe mit Georg sinniert oder ist es ein Buch, das mir Kunst näherbringen soll? Die Protagonistin Anna steht vor sehr bekannten Gemälden von Gaugin, Segantini, Edward Hopper oder Anna Ancher, um nur einige der Maler zu nennen. Und der Kunstinteressierte errät ziemlich leicht, um welches Bild es sich handelt oder handeln könnte, so detailliert beschreibt die Angelika Overath die Gemälde. So hat es mir grossen Spass gemacht, den einen oder anderen Kunstband aus dem Regal zu ziehen und die Bilder zu suchen, von denen im Roman die Rede ist. Auch sass ich öfters vor dem Computer und suchte das eine oder andere Gemälde im Internet. So habe ich mich wieder einmal intensiv mit Kunst befasst, was immer wieder ein Vergnügen ist.
Auch die Gegenden, in denen sich Anna aufhält, werden bis ins kleinste Detail präzise beschrieben und zeugt von einem guten Auge der Autorin. Hier ein Beispiel zu Skagen:
„Die niedrigen, in einem hellen, fast gelben Ocker getünchten Häuser hatten tiefe, rote Ziegeldächer, die an den Seiten mit weiss gemalten Schlusssteinen abgesetzt waren. Auch viele Giebellinien waren weiss. Jedes Haus hatte seine Grundstücksbegrenzung durch Reihen weisser Holzlatten. Ab und an flatterten an hohen Stangen Wimpel, winzige dänische Fahnen wie Korrekturzeichen.“
Über Anna und ihr Leben hätte ich gerne mehr erfahren, doch dieser Teil kommt meines Erachtens etwas zu kurz. So bleibt die Figur für mich etwas blass und hinterlässt den Eindruck, dass sie sich oft minderwertig fühlt und gehemmt ist, was mir etwas unwahrscheinlich für eine Journalistin dünkt. Doch das ist meine ganz persönliche Meinung. Es muss sich jeder sein eigenes Bild von diesem Roman machen.
Angelika Overath „Sie dreht sich um“
Verlag Luchterhand
279 Seiten
ISBN 978-3-630-87349-7
Der singende Stewart O’Nan
Wenn der amerikanische Autor Stewart O’Nan den Raum betritt kommt fast alleine Heiterkeit auf. Die Moderation wird praktisch überflüssig, denn Stewart O’Nan ist einer, dem man nicht jedes Wort aus der Nase ziehen muss. Er ist offen und ausgesprochen witzig. Das ist von Anfang an ein gutes Zeichen für die Lesung.
Die Leiterin des Literaturhauses Zürich stellt den Autor vor, der die neue Saison eröffnet und weist darauf hin, dass im neuen Roman „Die Chance“, im Original „The Odds“ der Song von Dinah Washington „Wheel of fortune“, dessen Text am Anfang des Buches abgedruckt ist, so passend ist. Sie klaubt ihr Iphone hervor und ist sich ziemlich sicher, dass das Abspielen des Titels nicht klappen wird. Aber dann ertönt das Lied über das Mikrophon und erntet von Stewart O’Nan und dem Publikum Applaus. Die Einführung hätte nicht besser sein können.
Erst einmal erklärt der Autor, worum es sich im Roman handelt:
Marion und Art, ein Ehepaar anfangs fünfzig und seit dreissig Jahren verheiratet stehen vor den Scherben ihrer Ehe, nicht zuletzt durch einen Seitensprung von Art mit einer um etliche Jahren jüngeren Arbeitskollegin, den Marion ihm nicht verzeihen kann. Das Pikante dabei ist, dass auch Marion eine Beziehung und zwar mit einer Frau hatte, wovon Art allerdings nichts weiss. Das Paar ist seit einer Weile arbeitslos, wegstrukturiert vom amerikanischen Arbeitsmarkt und mit dem grossen Haus inzwischen hoffnungslos verschuldet. Mit anderen Worten – sie sind pleite.
Mit den letzten Dollars begeben sie sich mit dem Bus zu den Niagara Falls, eine Valentinstag-Pauschalreise, um auf der kanadischen Seite ihr Glück im Kasino zu versuchen. Sie haben nichts zu verlieren. Am Tag ist Sightseeing angesagt, es wird gegessen, zu viel Alkohol getrunken und sie haben Sex miteinander, der auch nicht mehr der Knaller ist. Nachts aber rollt die Kugel beim Roulette, das Adrenalin steigt. Art, einst in der Versicherungsbranche tätig, hat eine totsichere Strategie entwickelt wie er glaubt. Er will nicht nur den grossen Gewinn im Spiel machen, sondern auch Marion für sich zurückgewinnen.
Dies die kurze Inhaltsangabe zum neuen Roman von Stewart O’Nan, der wie der Moderator Thomas Bodmer meinte, ein Meister darin ist, wenn es darum geht, das Leben der Amerikaner zu beschreiben. O’Nan liest schliesslich aus einem Kapitel vor und die Schauspielerin Miriam Japp fährt danach mit der deutschen Übersetzung weiter.
Es bereitet grosses Vergnügen, dem Autor zuzuhören, denn er gestikuliert mit den Händen, erhebt je nachdem die Stimme und als er die Szene liest, an dem Marion und Art ein Konzert der Band „Heart“ besucht, singt er auch noch die Passagen der Songs. Wäre er nicht Schriftsteller, er könnte glatt in einer Band als Leadsänger anheuern.
Er fragt ins Publikum, wer denn die Gruppe „Heart“ kenne, die in den 1970er-Jahren in den USA sehr bekannt war. Es hoben gerade mal drei Personen die Hände. Im Nachhinein stellte ich fest, dass auch ich die Band kenne, was ich beim Titel „Barracuda“ vermutete und bei Youtube bestätigt bekam. Hier der Song von „Heart“:
Wer noch einen kleinen Eindruck von Stewart O’Nans Gesangseinlage während der Lesung erhalten möchte, hier ein kleiner Ausschnitt:
Nach der Lesung stellte Thomas Bodmer dem Autor einige Fragen. Stewart O’Nan wurde in Pittsburgh geboren und wuchs in dieser Industriestadt auf. Heute ist die Einwohnerzahl stark zurückgegangen, nicht zuletzt, da die Autoindustrie komplett zusammengebrochen ist und viele junge Menschen keine Arbeit mehr finden. Stewart O’Nan hingegen ist mit seiner Familie in die Stadt zurückgekehrt, weil es so viele leere Häuser zur Auswahl gab, wie er frotzelte. Aber ehrlich gesagt, sei er auch der einzige der Familie gewesen, der je weggezogen sei. Er erzählte wie es ihm nach wie vor grossen Spass mache zu schreiben. Klar gäbe es Momente, wo es vielleicht mühsam sei an einem Buch zu arbeiten, wenn man nicht weiter wisse, aber seine Arbeit sei wirklich toll und er strahlte über das ganze Gesicht.
Thomas Bodmer fragte den Autor, ob er denn auch Ferien mache. Ja, klar. Nur, während seine Familie im Freien sei, verbringe er die Zeit drinnen – Fenster und Türen zu und im stillen Kämmerlein wird geschrieben. Wenn er dann endlich fertig sei, dann stelle er immer fest, wie die Welt meist schöner und bunter sei, als in seinen Büchern.
Eine Zuhörerin meinte, dass sie mit den Figuren im neuen Roman nicht wirklich warm geworden sei. Sie strahlten Kälte aus. Und O’Nan entschuldigte sich, das täte ihm leid. Er schaute ins Publikum und meinte, der Leser habe immer recht. Ein anderer Zuhörer, wohl der Ehemann der erwähnten Zuhörerin, ritt auf Satzdetails herum, was wir dann doch etwas anstrengend fanden.
O’Nan machte uns auf den Geburtstag von Lew Tolstoi aufmerksam und zollte diesem grossen russischen Schriftsteller seine Hochachtung, vor allem von „Anna Karenina“ ist er begeistert. Er sieht bei Tolstoi, dass jede seiner Figuren zur rechten Zeit am rechten Ort platziert wurde und sei deren Part auch noch so klein. Er selber legt für seine Protagonisten Notizhefte an und setzt dann Szene um Szene zu einem Ganzen zusammen. Manchmal würden sich die Charaktere aber auch ganz anders entwickeln als er geplant habe, aber das mache das Ganze auch wieder sehr interessant und überrasche ihn manchmal selber.
Für den Roman „Die Chance“ reiste er mit seiner Frau nach Niagara Falls und stieg ebenso wie Marion und Art in seinem Roman, in einem Hotel mit Casino ab. Er wollte sich ein genaues Bild vor Ort machen. Stewart O’Nan gab tolle Einblicke in seine Arbeit
Die Zeit verflog im Nu. Bei einem Apéro konnte weiter diskutiert und es konnten Bücher gekauft werden. Ich liess es mir nicht nehmen, meine mitgebrachten Bücher signieren zu lassen und er schrieb doch tatsächlich in jedes Buch etwas anderes hinein. Er nahm sich viel Zeit für seine Leser.
Diese Lesung war bereits ein erstes Highlight des Literatur-Herbstes 2014 und wer die Möglichkeit hat, sollte sich eine Lesung dieses Autors nicht entgehen lassen und sonst mindestens eines seiner Bücher lesen, allen voran „Emily, allein“, das so einfühlend geschrieben ist oder „Die Chance“ und und und …