Kreuzweg

Kreuzweg

Die Ich-Erzählerin entscheidet im Alter von sechzehn Jahren die letzten zwei Schuljahre in einem französischen Internat zu absolvieren. Ihr Vater ist nicht gerade begeistert, willigt aber schliesslich ein, dass seine einzige Tochter auswärts die Schule beenden möchte. Als sie sich mit ihrer Mutter in das Internat begibt, um sich einzuschreiben, erweckt sie bei der Klosterschwester den Eindruck, dass ihr der Abschied von zu Hause schwer falle. Doch sie verspürt keinerlei Heimweh und freundet sich rasch mit einem Mädchen an, das einer Hotellerie-Familie entstammt. Nur am Wochenende kehrt sie nach Hause fort, wo sie ihre Französischkenntnisse gleich anwendet und bald schon besser als ihr Vater, einem Schuldirektor, die Fremdsprache beherrscht.

Wenn ihr Vater Ausflüge vorschlägt, schützt sie vor, noch Hausaufgaben zu haben und für die Rückkehr ins Internat schlägt sie vor, dass die Mutter mitfährt, damit der Vater die fast zweihundert Kilometer nicht alleine zurückfahren müsse.

„Die Ader auf seiner Stirn pochte, als Mama sich bereit erklärte mitzugehen. Nur ich bemerkte das.“

Manchmal hält sie die Schulordnung nicht ein, wenn sie sich Süssigkeiten gönnt, die sie eigentlich mit den anderen teilen müsste. Immer am Dienstag, zieht sie sich mit Schokolade oder ein paar Toffees in ihr Bett zurück und geniesst diesen Augenblick für sich.

„Am Dienstagabend, und nur dann, ass ich sie im Bett auf, nachdem ich vorher unter der Bettdecke das Knisterpapier heruntergerissen hatte. […] Während ich mir die Süssigkeit auf der Zunge zergehen liess, dachte ich ganz intensiv und bewusst an zu Hause. An Mama, die zu ihrer wöchentlichen Chorprobe gegangen war und dort leidenschaftlich den Dirigentenstab schwang. An Papa, der jetzt allein im Haus war, sich durch das Fernsehprogramm zappte oder rastlos umherlief, vielleicht auch an einem Meisterwerk arbeitete.“

Ihr Vater hat mit der Malerei begonnen, kleine Miniaturbildchen, kindlich, akribisch genau gemalen.

Das erste Mal stockt mir als Leserin der Atem, es wird bei der Lektüre schon bald klar, worum es im neuen Roman von Diane Broeckhoven geht.

„Ich glaube, ich war in meinem Leben nie glücklicher, als an jenen Dienstagabenden in meinem Zimmerchen, die nur mir allein gehörten. Von der Aussenwelt nur durch einen dünnen Vorhang abgetrennt und trotzdem vollkommen sicher.“

Sie erwägt hier in dieser Sicherheit, mit einer Schwester zu sprechen und nimmt sich vor, ihrer Mutter einen Brief zu schreiben, auch wenn dieser Brief das Leben der Familie verändern, ja gar zerstören wird. Es kommt jedoch nicht mehr zum Gespräch, das persönliche Glück dauert nur wenige Monate, da wird ihr die traurige Botschaft vom Tod ihrer Mutter mitgeteilt. Sie muss nach Hause zurückkehren, ihrem Vater beistehen. Das letzte Schuljahr wird sie wieder ihre alte Schule besuchen und dort den Abschluss machen.

Nachdem noch einmal der Geburtstag der verstorbenen Mutter, mit einigen Verwandten begangen wird, vergisst die junge Frau, als sie zu Bett geht, die Tür zu ihrem Zimmer abzuschliessen. Der Herzschlag bleibt für Momente aus und man meint, gleich mit dem Mädchen tausend Tode sterben zu müssen, aber der Herzschlag setzt wieder ein, das Leben geht weiter. Beinahe normal sitzen sich Vater und Tochter am nächsten Morgen am Frühstückstisch gegenüber und ihr Vater heischt mit einem Hundeblick um Vergebung, sucht nach einer Entschuldigung.

Die Tochter zieht die Konsequenzen, packt einige Sachen und sucht Zuflucht bei ihrer fast blinden Oma Gleis, die ganz in der Nähe des Bahnhofs wohnt. Kleider holt sie nur, wenn sie weiss, dass sie ihrem Vater nicht begegnen wird. Kleider von ihrer Mutter, Fotos und Souvenirs nimmt sie mit in ihr neues Zuhause und baut sich ihren persönlichen Mutter-Altar auf.

In ihrer neuen, alten Schule bleibt sie alleine, wird nicht zu Partys eingeladen. Man weiss nicht, wie man der Mitschülerin begegnen soll, die die Mutter verloren hat. Nur mit dem anderen neuen Mitschüler freundet sie sich an und der gibt schon bald freimütig zu, dass er sich nicht für Mädchen interessiert. Darüber ist die Ich-Erzählerin mehr als froh. Und froh ist sie auch, als ihr Vater eine neue Beziehung eingeht. Es ist die Frau auf einem Tryptichon ihres Vaters, die sie „Geisha“ nennt, weil sie einen weissen Teint und ein fast japanisches Aussehen hat. Die neue Frau an der Seite ihres Vaters ist eine Erleichterung, aber bald gerät die vermeintlich heile Welt erneut aus den Fugen oder sagen wir, sie fällt aus allen Nähten. Das siebzehnjährige Mädchen beginnt ihren Körper in den Kleidern ihrer Mutter zu verstecken.

„In ihren Röcken und Hosen hatte mein Körper wieder Platz. Alles an mir war rundlicher, voller geworden, sogar meine Wangen. Wenn ich voller Entsetzen in den Spiegel von Omas Wäscheschrank sah, blickte mir manchmal meine Mutter entgegen. Ich erkannte etwas von ihrer warmen Molligkeit wieder. Es war, als habe sie sich unter meiner straffen Hauf eingenistet.“

Diane Broeckhoven, 1946 in Antwerpen geboren, hat zahlreiche Kinder- und Jugendbücher geschrieben und mit dem Roman „Ein Tag mit Herrn Jules“ gelang ihr ein absoluter Bestseller, der das Herz berührte. Mit ihrem neuen Roman „Kreuzweg“, der von Isabel Hessel ins Deutsche übersetzt wurde, berührt sie mich erneut.

Das Buch wird nicht in Kapitel, sondern in Stationen gegliedert, es sind die fünfzehn Stationen auf dem Kreuzweg von Jesus. So trägt die erste Station den Titel „J. wird zum Tode verurteilt“ und die letzte Station „J.s Wiederauferstehung aus dem Grab“. Den Roman könnte man als Gleichnis zu Jesus Kreuzweg verstehen, denn es ist auch der Kreuzweg der Ich-Erzählerin, von der der Leser erst am Schluss den Namen erfahren wird. Unglaubliches Leid, das ihr in jungen Jahren zugefügt wurde, trägt sie als schwere Last alleine, ohne sich jemandem anvertrauen zu können und wäre beinahe daran zerbrochen. Immer wenn sie sich entscheidet, auch als erwachsene Frau, ihr schreckliches Geheimnis jemandem anzuvertrauen, ist es bereits wieder zu spät. Die Autorin hat es erneut geschafft, mit wenigen Worten fast ein ganzes Leben, das so tragisch ist, zu umschreiben. Die Lektüre hat mich aufgewühlt und erschüttert zurückgelassen.

Diane Broeckhoven: Kreuzweg
Verlag C. H. Beck
ISBN978-3-406-63941-8
124 Seiten

Die Donnerstagswitwen

Argentinien steht in diesen Tagen wieder in den Schlagzeilen, die Bevölkerung demonstrierte zu hunderttausenden gegen die Regierung und die Präsidentin Christina Kirchner. Die Kriminalität steigt, die Korruption nimmt immer schlimmere Ausmasse an und mit der Wirtschaft steht es auch nicht zum Besten. So gehen die Menschen, vor allem Mittelstand und Oberschicht, mit ihren Töpfen und Pfannen auf die Strassen, um ihrer Unzufriedenheit mit viel Lärm Luft zu machen.

Die argentinische Schriftstellerin Claudia Piñeiro nimmt den Leser in „Die Donnerstags-witwen“ in eine ähnliche Zeit mit, wie sie erneut vorherrscht, doch das Zeitrad wird in die 1990er-Jahre zurückgedreht.

„Ich benutzte so wenig Geschirr wie möglich. Schon seit ein paar Jahren hatte ich mich damit abgefunden, dass wir uns keine Vollzeithaushaltshilfe mehr leisten konnten, inzwischen kam bloss noch zweimal pro Woche eine Frau, die die gröbsten Arbeiten erledigte. Seither benutzte ich also kaum noch Geschirr, wie ich mir auch angewöhnt hatte, meine Kleidung möglichst nicht zu zerknittern und nur selten das Bett neu zu beziehen. Nicht, weil ich die damit verbundene Arbeit als anstrengend empfunden hätte, aber wenn ich Geschirr spülte, Betten machte oder bügelte, musste ich daran denken, was ich früher gehabt hatte, jetzt aber nicht mehr hatte.“

Das sind die Worte von Virginia Guevara, deren Mann Ronie vor sechs Jahren die Arbeit verloren hat und nun mehr oder weniger den ganzen Tag zu Hause hockt. Die Familie wohnt in einem Country, einer abgeschlossenen Siedlung namens Altos de la Cascada, ausserhalb von Buenos Aires. Ein zwei Meter hoher Drahtzaun umgibt das Gelände, Überwachungskameras sind installiert. Die Schranke hebt sich nur für die Bewohner die ihre Magnetkarten ans Lesegerät halten, für die Hausangestellten, Arbeiter und Besucher, die angemeldet sind. Ausser zur Arbeit oder für die Schule muss man das Country nicht verlassen. Alles ist hier vorhanden: Läden, Kinos, Sport- und Freizeitplätze. Es ist geregelt wie die Gärten angelegt werden dürfen, Zäune und Mauern sind verboten. Alles ist mehr oder weniger reglementiert. Es ziehen Familien her und auch wieder weg. Trennt sich ein Paar oder stirbt ein Ehepartner, bleibt der andere Partner selten im Country. Dann kommt Virginia oder wie sie sich geschäftlich nennt, Mavi, ins Spiel. Eher durch Zufall rutscht sie in die Immobilienbranche und betreibt nun ihr eigenes Maklerbüro. An ihr kommt keiner vorbei, der in La Cascada ein Haus kaufen oder verkaufen will. Und ihr rotes Heft, in das sie alles notiert, was mit Kunden und dem Immobilienhandel zu tun hat, ist berüchtigt.

Die Familie Guevara lebt seit Ende der 1980er-Jahre im Country und ist eine der ersten, die dauerhaft in Altos de la Cascada einzieht und der Stadt den Rücken zukehrt.

„Hierauf legte Virginia jedes Mal besonderen Wert, wenn sie jemandem ein Haus zeigte: Fledermäuse und Beutelratten. Neue Bewohner der Siedlung, die bei der Ankunft in ihrer Ahnungslosigkeit und ohne Vorwarnung dem Glauben verfielen, im Paradies gelandet zu sein, und dann unversehens auf eins dieser Tiere stiessen, würden sich nie mehr von diesem Schreck erholen. Fledermäuse und Beutelratten lassen sich aber nun einmal weder von den drei Durchgangsbarrieren noch vom ringsum aufgespannten Maschendraht abhalten. […] „Und wer jemandem ein Haus verkaufen oder vermieten will, sollte dafür sorgen, dass den Kunden ihre Traumvorstellungen erhalten bleiben; ihre Ängste dagegen sollten sich so schnell wie möglich in Luft auflösen.“ So steht es in Virginias Heft, im Kapitel „Fledermäuse, Beutelratten und andere Mitglieder der Fauna von La Cascada“. Und in Klammern hat sie hinzugefügt: „Zumindest, bis alle Verträge unterschrieben sind.“

Der Leser begleitet nicht nur die Familie Guevara durch deren Alltag mit ihren Freuden und vor allem Sorgen, sondern auch die Scaglias, die Urovichs, Andrades, Insúas und Masottas. Denn nicht nur die Fledermäuse und Beutelratten überwinden die Barrieren des Country, sondern auch die alltäglichen Probleme der Paare und die der pubertierenden Kinder. Eines Tages wird Virginia nämlich in die Schule gebeten, da Sohn Juani anscheinend Probleme macht. Ein Aufsatz über „Die Nachbarn“ ist Anlass zur Sorge. Juani scheint Dinge über den Nachbarn zu erfinden, der sich nachts nackt vor den Computer setzt und seine Hand immer wieder zwischen den Beinen verschwinden lässt. Ausserdem hat der Junge auch noch ein Bild gezeichnet, auf dem der Nachbar rittlings auf dem Hund zu sehen ist. Das Bild haben einige Klassenkameraden bereits gesehen. Was damals die Runde noch als Zeichnung machte, wäre heute eine Handyaufnahme. Auch wenn der Junge die Wahrheit schreibt und die Situation zeichnet, wie er sie beobachtet hat, ist er es, der eine Therapie beim Psychologen machen soll, wie die Schulleitung der entsetzten Mutter empfiehlt.

Später befreundet sich Juani mit der Tochter der Andrades, Romina, die vor ihrer Adoption Ramona hiess. Sie fühlt sich nie wirklich wohl in ihrer neuen Familie und ihr Bruder Pedro wird ihr bereits als Baby entzogen und wie sie vermutet schmiert ihm die Adoptivmutter Crème zur Hautaufhellung ins Gesicht. Die Mutter lehnt sie ab und vom Vater hält sie ebenfalls nicht viel.

„Romina weiss nicht, was Ernesto beruflich macht. In der Schule soll sie einen Aufsatz darüber schreiben, welcher Arbeit der Vater nachgeht. Aber Romina weiss das nicht. Sie weiss, was die anderen sagen, aber das stimmt nicht. […] In Altos de la Cascada glauben alle, er sei Anwalt […] Mariana müsste es auch wissen. Schliesslich ist sie seine Frau. Doch Mariana lügt. In einem Aufsatz lügt man nicht. Wenigstens erzählt man nicht anderer Leute lügen, da erfindet man besser selber welche.“

Juani und Romina ziehen durch die Strassen der Siedlung, klettern auf Bäume und schauen durch fremde Fenster oder rauchen Marihuana. Was wieder ein Grund zur Sorge ist.

Die Polizei wird nie hinzugezogen. Schwierigkeiten regelt man selber, Verbrechen gibt es keine, höchstens Verstösse und dafür gibt es von einem Rat Verwarnungen und die Vergehen werden in einer Liste eingetragen. Für die meisten Bewohner ist alles mehr oder weniger im grünen Bereich bis zur Jahrtausendwende. Argentinien schlittert in eine Wirtschaftskrise, längst stehen weitere Männer auf der Strasse, so auch Tano Scaglia, der Geschäftsführer bei einer holländischen Firma ist. Zu Hause verschweigt er, dass er seinen Job verloren hat und fährt weiterhin in sein Büro in Buenos Aires, das ihm noch eine Zeit lang zur Verfügung gestellt wird. Seine Frau Teresa plant nichtsahnend die nächsten Ferien im Ausland, die sich die Familie inzwischen gar nicht mehr leisten kann. Der Hausherr rechnet, wie lange das Ersparte noch reichen wird um den Lebensstil unverändert aufrecht zu erhalten. Die Urovichs sind inzwischen beinahe pleite. Die Ehefrau pumpt eine Bekannte an, um einen Hund für ihren Sohn kaufen zu können. Der Umzug nach Miami wird geplant, wo man in der spanischen Community nicht mal Englisch können muss und sich schon irgendeine Arbeit finden wird. Und der seltsame Neue, Gustavo Masotta, der überstürzt eine neue Bleibe bei Virginia kauft, stellt sich als Schläger seiner Frau heraus. Einige Herren versuchen auf zweifelhafte Art noch Geld zu scheffeln.

„In La Cascada ist es nichts Besonderes, wenn man nichts über den anderen weiss, nicht was er gemacht hat, bevor er hierhergezogen ist, und auch nicht, was er jetzt eigentlich so macht, wenn er in seinen eigenen vier Wänden ist.“

Dann ist wieder Donnerstag – Herrenrunde – und Tano macht seinen Freunden einen unglaublichen Vorschlag.

Die Autorin Claudia Piñeiro, wurde 1960 in Buenos Aires geboren. Nach dem Wirtschaftsstudium wandte sie sich dem Schreiben zu, arbeitete als Journalistin, schrieb Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher und führte auch Regie fürs Fernsehen. Für den Roman „Donnerstagswitwen“ erhielt sie 2005 den Premio Clarín.

Zuerst glaubte ich nicht so recht, dass mich die Schilderungen von dieser reichen oder sagen wir mal vermeintlich reichen Bevölkerungsschicht interessieren könnte. Denn was ist spannend an Frauen, die sich aus lauter Langeweile zu irgendwelchen Mal- oder Feng Shui-Kursen treffen, den Nachmittag beim Burako-Turnier verbringen, Sport treiben oder Männer die sich zum Tennis- und Golfspiel treffen, Parties veranstalten und über Aktien sprechen? Doch allmählich nehmen die Einzelschicksale Fahrt auf, die heile Welt hinter den Fassaden ist alles andere als in Ordnung. Der kostspielige Lebenswandel lässt die Vermögen schrumpfen, die Kinder begehren auf und mit Schrecken müssen die Eltern feststellen, dass auch im Country Drogen die Runden machen. Auch innerhalb des „Paradieses“ wird gelogen und betrogen. Die Freundschaften erweisen sich in vielen Fällen meistens als oberflächlich, denn Keiner weiss so richtig über den anderen Bescheid.

Der Zaun um die Siedlung garantiert keine Sicherheit und bietet keinen Schutz vor den Unannehmlichkeiten, die das Leben mit sich bringen kann. Es stellt sich heraus, dass die Bewohner des Countrys als unfähig erweisen, die einfachsten Dinge des Lebens, zu bewältigen, wie die richtige Buslinie zu nehmen oder eine Fahrkarte zu lösen. Der Putz beginnt zu bröckeln. Und schlussendlich muss auch die Familie Guevara über ihren Schatten springen und eine folgenschwere Entscheidung treffen.

All dies beschreibt Claudia Piñeiro auf eindrückliche Weise und mit Biss. Der Roman wird als Krimi angepriesen. Ich betrachte es eher als eine Gesellschaftsstudie über die obere Mittelschicht, die sich in Krisenzeiten verheddert wie ein Garnknäuel und nicht mehr weiter weiss. Die Geschichten der Menschen zogen mich mit sich. Ich wurde, wie Romina und Juani, die nachts durch die Strassen von Altos de la Cascada streifen, zum Voyeur, der durch fremde Fenster schaut und der Blick fördert einige Überraschungen ans Licht, die nichts mehr mit dem Paradies gemein haben.

Claudia Piñeiro: „Die Donnerstagswitwen“
aus dem Spanischen von Peter Kultzen
erschienen im Unionsverlag

Ganz normale Helden

Ein knappes Jahr ist es her, seit Donald Delpe, der Protagonist aus dem Roman „Superhero“ an seinem Krebsleiden verstorben ist. In „Ganz normale Helden“, bei Diogenes erschienen, kehrt der Leser zur Familie Delpe zurück und erfährt, wie es ihr heute geht.

Donnys Tod hat die Familienmitglieder durchgeschüttelt und jeder versucht auf seine eigene Weise, den Verlust zu verarbeiten. Vater Jim vergräbt sich hinter den Aktenbergen in der Kanzlei, wie er es immer getan hat. Mutter Renata fühlt sich in jeder Beziehung von ihrem Mann im Stich gelassen. Sie surft im Internet herum und unterhält sich mit jemandem, der sich GOTT nennt. Sie beichtet ihm ihre intimsten Gefühle und erhofft sich Hilfe und gute Ratschläge.

„Was Jim und ich jetzt bräuchten, das wäre Trauer – wir müssten ganz offen trauern -, aber es ist, wie wenn man in einen Spiegel schaut. Statt Trost finden wir im Anderen nur das Spiegelbild unseres eigenen Schmerzes.“

Jeff sendet seinem toten Bruder SMS ins Jenseits, denn das Handy hat er damals mit in den Sarg gelegt. Zu ihrem erstgeborenen Sohn haben die Eltern kaum noch eine Verbindung. Der Sohn ist sozusagen offline. Die einzige Aufmerksamkeit, die ihm widerfährt, ist, dass die Mutter ihn ständig kontrolliert und neuerdings seine persönliche Post öffnet. Weshalb bekommt er einen Check von 750 Pfund zugestellt?

Bei einem Gesprächsversuch von Vater Jim, kann Jeff nicht glauben was er hört. Die Eltern scheinen kein Vertrauen in ihn zu haben und am liebsten würde er auf der Stelle ausziehen. Er fühlt sich in seiner Privatsphäre verletzt und dass er nicht schon längst ausgezogen ist, hängt nur damit zusammen, dass er verhindern will, dass sich seine Eltern  gegenseitig zerfleischen und trennen. „Jeder Streit über eine Einzelfrage wird zur Generalabrechnung.“

Dann ist Jeff plötzlich doch weg, sogar ohne sein Handy mitzunehmen und ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Die Mutter versucht alles, ihren Sohn zu finden: sie malt Suchaufrufe an Autobahnbrücken, läuft mit einer umgehängten Tafel durch die Innenstadt, verteilt Flyers und im Internet stellt sie eine Belohnung von 100’000.– Pfund in Aussicht, für Hinweise, die zu Jeffs Aufenthaltsort führen! Jim hingegen lässt sich vom IT-Experten in der Kanzlei in die Welt des Cyberspace einführen, um seinen Sohn in dessen virtuellen Welt von „Life of Lore“ zu finden.

Level um Level kämpft er sich hoch, in einem Spiel, das anscheinend auch in der US-Army zu Ausbildungszwecken eingesetzt wird. Immer mehr Zeit verbringt er im Internet und vernachlässigt seine Arbeit in der Kanzlei, mit fatalen Auswirkungen auf seine Fälle.

Das Ehepaar Delpe spricht nur noch das nötigste miteinander, getrennte Schlafzimmer tun ein Übriges und am Wochenende fährt Jim mit dem Hund, den er angeschafft hat, aufs Land, wo er ein Cottage umbauen lässt, um mit der Familie hier einen Neuanfang zu wagen. Tapetenwechsel würde allen gut tun.

Die Erfahrungen, die Jim mit dem Computer-Spiel im Internet sammelt, lässt ihn in eine neue Welt vorstossen, die ihn vorher nicht im Geringsten interessiert hat. Inzwischen verbringt er mehr Zeit als Avatar „AGI“, als in der Realität. Sein Sohn ist in „Life of Lore“ längst auf dem höchsten Level angelangt und coacht newbies (Neulinge). Als er Jeff endlich aufspürt und diesen gegen ein Entgelt anheuert, um ihn begleiten zu können, versucht er ihn über dessen Leben auszufragen und muss sich anhören, dass Jeff, alias Merchant of Menace, ihn für einen Wichser hält, weil er feige sei.

„Dass ein Sohn so über seinen Vater denkt! Ein Vater sollte so etwas nicht wissen. Ist das der wahre, der verborgene Grund, warum Jeff so plötzlich ausgezogen ist? Wird er das je vergessen können? Nein. Nie. Dieser eine Satz hat entsetzlichen Schaden angerichtet.“

Er macht noch andere Entdeckungen, die ihm nicht gefallen und die ihn völlig verunsichern. Zudem lässt er sich auf eine virtuelle Sexaffäre ein, was er nie für möglich gehalten hätte und diese bringt ihn in arge Bedrängnis. Jim will seinen Sohn aus den Klauen eines nicht greifbaren Tieres retten und dann muss er schauen, wie er selbst aus dem Schlamassel wieder rauskommt. Ob er das schafft? Renata ihrerseits bewahrt etwas in ihrem Innersten auf, das sie beinahe auffrisst, sie in den Abgrund zu ziehen versucht. Findet die Familie Delpe einen Ausweg? Das soll jeder selber herausfinden und sich dem neuen Leseabenteuer hingeben.

Anthony McCarten hat mit seinem neuen Roman einmal mehr den Nerv der Zeit getroffen. Zuerst war ich nicht gerade angetan, mich in einem Buch mit einem Internet-Game herumschlagen zu müssen und ich dachte, ich könnte die entsprechenden Stellen einfach auslassen. Das funktioniert aber überhaupt nicht. Da musste ich genauso durch wie Jim Delpe. Eindringlich wird aufgezeigt, wie man sich in PC-Spielen immer mehr verstricken und kaum noch reale und virtuelle Welt unterscheiden kann. Man verliert sich in einer Scheinwelt. Das Internet hilft ablenken, man kann chatten und Rat suchen, aber es kann keine Liebe und Geborgenheit geben und nicht umarmen. Probleme lösen sich ebenfalls nicht in Luft auf, im Gegenteil, es können noch neue hinzukommen. Man kann sich von der realen Welt abschotten, aber schlussendlich sind es die Menschen, aus Fleisch und Blut, die wir tatsächlich brauchen.

Meines Erachtens wird dem virtuellen Teil des Romans viel zu viel Platz eingeräumt. Oft habe ich mir den Part, der die reale Welt der Delpes betrifft, so schnell wie möglich wieder herbeigewünscht, denn wie schon zuvor im Roman „Hand aufs Herz“ hat mich Anthony McCarten vorwärts gepusht, weil er mit seiner Erzählweise, praktisch von Anfang an, eine Spannung erzeugt, der ich mich nicht entziehen konnte. Ich musste einfach wissen, ob es eine Rettung für diese Familie gibt, deren Mitglieder in einer Sackgasse gelandet sind und verzweifelt das Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels ersehnen.

Das Schicksal ist ein mieser Verräter

Hazel ist sechzehn und in ihrem Körper hat sich der Krebs eingenistet „Schilddrüse mit  Metastasen in der Lunge“. Damit ihre Atmung gewährleistet ist, hat sie einen ständigen Begleiter bei sich – das Sauerstoffgerät. Ihre Mutter ist der Ansicht, dass Hazel zurzeit Depressionen hat und deshalb die Selbsthilfegruppe, die wöchentlich am Sonntag zusammenkommt, besuchen sollte. Rausgehen und Freunde finden, wie sie meint.

„In jeder Krebsbroschüre oder Website oder Infoseite werden Depressionen als Nebenwirkung von Krebs genannt. Doch in Wirklichkeit sind Depressionen keine Nebenwirkung von Krebs. Depressionen sind eine Nebenwirkung des Sterbens.“

Die Selbsthilfegruppe, findet Hazel „ätzend“, die Mitglieder wechseln ständig und die Rede ist immer von Kampf, Krieg und Sterben. Nur den Eltern zuliebe geht sie hin, denn Hazel möchte, dass sie glücklich sind. Vor drei Jahren wurde sie von der Schule genommen. Zu Hause vergräbt sie sich hinter Büchern oder schaut mit ihren Eltern „America’s next Top Model“ im TV. Daneben schlägt sie immer wieder ihr Lieblingsbuch „Ein herrschaftliches Leiden“ auf, das eine Art Bibel für sie ist.

Hazels Leben erhält eine andere Fahrtrichtung, als ausgerechnet an jenem Sonntag, an dem sie nur widerwillig zur Selbsthilfegruppe aufbricht, ein Neuer auftaucht. Der Typ ist äusserst attraktiv und starrt sie völlig unverschämt an. Bisher hat sie sich nicht sonderlich für Jungen interessiert. Generell versucht sie Freundschaften zu vermeiden, sieht sie sich doch selbst als „Zeitbombe“. Augustus Waters, genannt Gus, flirtet heftig und kommt mit ihr ins Gespräch. Er selbst hat durch den Krebs ein Bein verloren und trägt eine Prothese. Zurzeit ist er ohne Befund.

In kleinen Schritten und äusserst zurückhaltend nähern sich die beiden, führen lange Gespräche über ihre Lieblingsbücher, Filme, ihr Leben. Auf den ersten Blick könnte man meinen, das sei nichts Aussergewöhnliches, doch die beiden Protagonisten sind durch ihre Lebenssituation reifer als andere Teenager ihres Alters. Ihre Krankheit hat sie früher erwachsen werden lassen. Hazel muss sich sehr bald eingestehen, dass sie diesen Jungen, mit dem schiefen Lächeln sehr, sehr mag. Er gibt ihr auch das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Als die beiden auch auf ihren Herzenswunsch zu sprechen kommen, ist Gus etwas enttäuscht, als er erfährt, dass Hazel sich einen Besuch im Vergnügungspark gewünscht hat. Deshalb schenkt er ihr seinen Herzenswunsch, der nach der Lektüre von Hazels Lieblingsbuch auch zu seinem wird – den Autor von „Ein herrschaftliches Leben“ zu treffen. Das Buch endet mitten im Satz – Fragen drängen sich auf, wie die Geschichte weitergeht.

Nach einigen Bedenken, die  Hazels Ärzte äussern, tritt sie in Begleitung ihrer Mutter und Gus die Reise über den Atlantik nach Amsterdam an, wo ein persönliches Treffen mit dem Autor arrangiert ist. Hazels Mutter lässt den beiden Teenagern genügend Freiraum und zieht sich diskret zurück. So verbringen die beiden eine aussergewöhnliche Zeit miteinander, die sie schliesslich auch ins Haus des Autors führt, der sich dann zwar als „Riesenarschloch“ herausstellt, denn er hängt ständig an der Flasche. Gemeinsam mit der Assistentin des Autors besuchen Hazel und Gus das Anne Frank-Haus und ausgerechnet in diesem Haus wird Hazel zum ersten Mal geküsst.

„Der Raum um uns verschwand, und einen merkwürdigen Moment lang mochte ich meinen Körper richtig gerne; dieses vom Krebs zerfressene Ding, das ich seit Jahren mit mir herumschleppte – plötzlich schien es all die Kämpfe wert zu sein, die Schläuche und Katheter und den unaufhörlichen körperlichen Verrat der Metastasen.“

Die Unbekümmertheit wird durch Gus‘ Geständnis im Hotel schnell zerstört. Noch vor der Abreise nach Europa wird bei ihm erneut der Ausbruch des Krebses festgestellt. Die Bestie frisst sich langsam und unerbittlich wieder durch seinen Körper. Die Therapie hat er für die Reise extra unterbrochen.

„Einen grossen Teil meines Lebens habe ich damit verbracht zu versuchen vor den Menschen, die mich liebten, nicht zu weinen. Daher wusste ich genau, was Augustus da tat. […] und weil du kein Kummer sein willst, darfst du nicht weinen, und das alles redest du dir ein, während du zur Decke siehst, und dann schluckst du, obwohl sich deine Kehle nicht schliessen will, und siehst den Menschen, der dich liebt, an und lächelst.“

Eine Faust legt sich mir auf den Magen und ich fange ebenfalls an zu schlucken, so sehr nehmen mich die Worte in Beschlag, als würde Gus mir diese schreckliche Mitteilung machen und nicht Hazel.

Hazel, die immer davon ausging, dass sie nicht mehr lange zu leben hat, begleitet nun ihren Freund im Krebs-Endstadium. Das Klingeln des Telefons schreckt sie jedes Mal auf – wer weiss, welche Nachricht sie erwartet. Die Eltern machen sich auch um ihre Gesundheit Sorgen und wollen Hazel nicht mehr aus dem Haus lassen, denn sie ist ständig unterwegs. Das Mädchen setzt all ihre Kräfte für ihren todkranken Freund ein. Sie hat sich inzwischen von ihren Eltern gelöst und eilt zu Gus, wann immer es ihr möglich ist – nichts und niemand kann sie aufhalten:

„Und jetzt wollt ihr, dass er endlich stirbt, damit ich wieder hier in diesem Kerker rumsitze und du dich wieder so um mich kümmern kannst wie früher. {…] Ich brauche dich nicht mehr wie vorher. Du brauchst mich, weil du diejenige bist, die sonst nichts im Leben hat.“

John Green hat einen aussergewöhnlichen Jugendroman geschrieben, mit Themen, die unter die Haut gehen. Ich rechne es dem Autor hoch an, dass er nicht den leichten Weg für das Ende des Buches gewählt hat, es verkommt auch nicht zur Schnulze. Lachen und Weinen wechseln sich ab. Mit viel Witz und Ironie versuchen diese Teenager ihrer Krankheit etwas den Ernst zu nehmen. Sie wollen so normal wie möglich behandelt werden. Manche Situation wirkt urkomisch und man wagt zu lachen.Trotzdem blieb mir das Lachen manchmal im Halse stecken, denn die Tränen schmuggelten sich am Lachen, in die erste Reihe vorbei.

Die Altersangabe von dreizehn Jahren finde ich eher an der unteren Grenze, schon der Sprache wegen, und es wäre wünschenswert, wenn der junge Leser mit der Lektüre nicht alleine gelassen, sondern von Erwachsenen begleitet würde, um über den Lesestoff sprechen zu können, denn Krankheit und Tod verbindet man im Normalfall mit Alter und nicht mit Jugend. Ich wünsche dem Buch auf jeden Fall viele Leser – Jugendliche sowie auch Erwachsene.

Gerade in diesen Tagen, schlug ich die Zeitung auf und fand auf der Seite der Todesanzeigen ein Inserat der Krebsliga, mit dem Text „1 von 3 erkrankt im Laufe des Lebens an Krebs“. Einen Tag später finde ich in unserem Briefkasten einen Spende-Brief der Krebsforschung und ein Arbeitskollege erzählte mir, dass ein Freund von ihm eine achtstündige OP vor sich habe – Diagnose Darmkrebs. Eine Krankheit, die uns, in irgendeiner Weise, alle angeht.


Die undankbare Fremde

„Wir liessen unser Land im vertrauten Dunkel zurück und näherten uns der leuchtenden Fremde.“ 

Mit diesem Satz beginnt der Roman „Die undankbare Fremde“ von Irena Brežná, die ihre Ich-Erzählerin von ihrer Erfahrung als Emigrantin in der Schweiz berichten lässt.

Als sie mit ihrer Familie in der Schweiz ankommt, werden in der Kaserne erst einmal Verhöre durchgeführt und wie bei der Einwanderung in die USA, wird der fremd klingende Familienname vereinfacht, es werden ihrem Namen „Flügel und Dächlein“ gestrichen.

„Diesen Firlefanz brauchen Sie hier nicht.“ Er strich auch meine runde, weibliche Endung, gab mir den Familiennamen des Vaters und des Bruders. Diese sassen stumm da und liessen meine Verstümmelung geschehen. Was sollte ich mit dem kahlen, männlichen Namen anfangen? Ich fror.“

Die Ich-Erzählerin besucht einen Sprachkurs, findet bald eine Freundin, Mara, die sie einige Jahre begleiten wird. Sie will sich nicht in einen Dialekt zwängen lassen, in dem sie mehr schlecht als recht radebrechen kann, sondern eignet sich die hochdeutsche Sprache an, die ihr Zuhause sein wird und in der sie sich wohl fühlt. Sie bleibt rebellisch, ist vielen Gewohn- und Eigenheiten in unserem Land kritisch eingestellt, denn als Einwanderin sieht sie die Schweizer aus einem anderen Blickwinkel:

„Beliebt war demonstrative Unsicherheit. Man hängte gerne „gell“ und „oder“ an, damit nicht der Eindruck entstand, man gäbe mit eigenem Wissen ungebührlich an und wollte eine demokratische Diskussion unterbinden.“

Ihre Kritik, ihre Art, dass sie Bestehendes hinterfragt, wird ihr als Undankbarkeit ausgelegt. Ein Emigrant hat dankbar zu sein, dass er hier, in der sicheren Schweiz leben darf. Sie aber ist „die undankbare Fremde“.

Als sie erwachsen ist, arbeitet sie als Dolmetscherin. Sie begleitet Flüchtlinge und Einwanderer zu Behördengängen, übersetzt am Krankenbett im Spital, im Gerichtssaal oder beim Psychiater. Sie kommt dadurch mit Ausschaffungshäftlingen, mit Drogensüchtigen, psychisch Kranken, Sterbenden zusammen. Erstes Gebot ist es, das Gesagte gewissenhaft zu übersetzen, nichts wegzulassen und nichts hinzuzufügen, ansonsten droht eine mehrjährige Gefängnisstrafe. Trotzdem gibt es Situationen, in denen die Ich-Erzählerin das Gesagte auch einmal ausschmückt. Eine Klientin beschwert sich allerdings beim Dolmetscherdienst, da sie das Gefühl nicht loswerde, dass alles was sie gesagt habe, nur verkürzt übersetzt wurde.

„Ich bin Recyclerin, die aus dem Wortmüll nur die nützlichsten Stücke rettet.“

Persönlicher Kontakt zu den Klienten ist unerwünscht, Gespräche mit ihnen, vor einem Termin, sollen nicht geführt werden. Auch an diese Regeln hält sich die Ich-Erzählerin während dem Dolmetscherdienst nicht immer. Handkehrum gibt sie Aufträge an eine Kollegin ab, wenn sie das Gefühl hat, dass es ihr zu viel mit einem Klienten wird.

„Als sprachlicher Notfalldienst kurve ich in Sprachen wie in verwinkelten Gassen herum, berühre den einen oder anderen Arm und schaue in viele Augen. Aufwühlende Fahrten sind das.“

Mit den Jahren, die sie als Dolmetscherin arbeitet, bemerkt sie plötzlich, dass sie  schon Mal einen Ratschlag erteilt, der aus der Integrationsbroschüre stammt.

„Gerne pachten die sprachlosen Fremden die Schwäche für sich. Eifersüchtig wachen sie über ihren einzigen Besitz. Je mehr Stärke sie in mir sehen, umso mehr hoffen sie, sich etwas davon abbrechen zu können. Sie klagen und klagen.“

Als die Ich-Erzählerin in andere Länder aufbricht, trifft sie häufig auch dort auf Einwanderer, die über ihr Gastland lamentieren und auf der Suche nach dem idealen Land sind. Wenn diese Menschen anfangen, über die Schweiz zu lästern, stellt sie fest, dass sie anfängt, dieses Land in Schutz zu nehmen, die positiven Seiten aufzuzeigen. Und kommt sie zurück, erscheint es ihr jedes Mal erträglicher.

„Die Ruhe versetzte mich nicht mehr in Unruhe. Ich atmetet tief, als glitte ich in etwas Vertrautes, Stilles zurück. Das Land war nicht nur selbstgefällig, es war selbstgenügsam, sass mir nicht auf der Pelle. Die Polsterung erlaubte, dass man sich für die vielen Ungepolsterten in der Welt interessierte. Tatkräftig, wie denn auch sonst.“

Die Autorin Irena Brežná, wurde 1950 in der damaligen Tschechoslowakei geboren und emigrierte mit achtzehn Jahren in die Schweiz. Sie arbeitete als Journalistin, Kriegsreporterin und ist als Dolmetscherin tätig. Sie steht mit beiden Beinen im Leben und weiss, wovon sie spricht. Schonungslos geht die Ich-Erzählerin mit der Schweiz und seinen Bewohnern ins Gericht. Sie schont aber keineswegs die Einwanderer und Flüchtlinge. Ich als Schweizerin könnte jetzt aufbegehren und protestieren, aber ich habe mich während des Lesens immer mal wieder gefragt: Sind wir Schweizer tatsächlich so? In vielen Belangen muss ich der Ich-Erzählerin zugestehen, dass sie Recht hat, mit dem Bild, das sie von uns malt. Gegenüber Fremden und vor allem Flüchtlingen glauben wirklich viele von uns, „der sollte dankbar sein, dass er hier sein darf/kann“. Zwischendurch muss sich jeder selber an der Nase nehmen und sich den Spiegel  vorhalten. Andere Menschen mit anderen Kulturen sind manchmal auch eine Chance für das eigene Land. Viele Einwanderer werden nicht zurückkehren, also müssen wir lernen, mit ihnen auszukommen. Die Erzählerin bringt es in einer Textpassage auf den Punkt, wenn sie sagt, dass sie nicht aus einer Diktatur geflüchtet ist, um jetzt in einem freien Land zu kuschen und zu schweigen. Denn dann hätte sie in ihrem Heimatland bleiben können.

Als ein Flüchtlingsmädchen vom Befrager gefragt wird, woran es glaube, antwortet es:

„An eine bessere Welt.“
Dann bist du richtig bei uns. Herzlich willkommen.“

Mit schöneren Worten könnte der Roman nicht enden, der mir in seiner Sprache ausgezeichnet gefallen hat. Die Autorin ist eine Sprachakrobatin und ich fühlte mich wohl in ihren Sätzen. Aus jeder Zeile heraus ist zu spüren, dass sie mit Sprache zu tun hat. In jeder Hinsicht kann ich dieses Buch empfehlen.

Ein interessantes Interview mit der Autorin ist in „Die Zeit“ nachzulesen.