Das Schicksal ist ein mieser Verräter

Hazel ist sechzehn und in ihrem Körper hat sich der Krebs eingenistet „Schilddrüse mit  Metastasen in der Lunge“. Damit ihre Atmung gewährleistet ist, hat sie einen ständigen Begleiter bei sich – das Sauerstoffgerät. Ihre Mutter ist der Ansicht, dass Hazel zurzeit Depressionen hat und deshalb die Selbsthilfegruppe, die wöchentlich am Sonntag zusammenkommt, besuchen sollte. Rausgehen und Freunde finden, wie sie meint.

„In jeder Krebsbroschüre oder Website oder Infoseite werden Depressionen als Nebenwirkung von Krebs genannt. Doch in Wirklichkeit sind Depressionen keine Nebenwirkung von Krebs. Depressionen sind eine Nebenwirkung des Sterbens.“

Die Selbsthilfegruppe, findet Hazel „ätzend“, die Mitglieder wechseln ständig und die Rede ist immer von Kampf, Krieg und Sterben. Nur den Eltern zuliebe geht sie hin, denn Hazel möchte, dass sie glücklich sind. Vor drei Jahren wurde sie von der Schule genommen. Zu Hause vergräbt sie sich hinter Büchern oder schaut mit ihren Eltern „America’s next Top Model“ im TV. Daneben schlägt sie immer wieder ihr Lieblingsbuch „Ein herrschaftliches Leiden“ auf, das eine Art Bibel für sie ist.

Hazels Leben erhält eine andere Fahrtrichtung, als ausgerechnet an jenem Sonntag, an dem sie nur widerwillig zur Selbsthilfegruppe aufbricht, ein Neuer auftaucht. Der Typ ist äusserst attraktiv und starrt sie völlig unverschämt an. Bisher hat sie sich nicht sonderlich für Jungen interessiert. Generell versucht sie Freundschaften zu vermeiden, sieht sie sich doch selbst als „Zeitbombe“. Augustus Waters, genannt Gus, flirtet heftig und kommt mit ihr ins Gespräch. Er selbst hat durch den Krebs ein Bein verloren und trägt eine Prothese. Zurzeit ist er ohne Befund.

In kleinen Schritten und äusserst zurückhaltend nähern sich die beiden, führen lange Gespräche über ihre Lieblingsbücher, Filme, ihr Leben. Auf den ersten Blick könnte man meinen, das sei nichts Aussergewöhnliches, doch die beiden Protagonisten sind durch ihre Lebenssituation reifer als andere Teenager ihres Alters. Ihre Krankheit hat sie früher erwachsen werden lassen. Hazel muss sich sehr bald eingestehen, dass sie diesen Jungen, mit dem schiefen Lächeln sehr, sehr mag. Er gibt ihr auch das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Als die beiden auch auf ihren Herzenswunsch zu sprechen kommen, ist Gus etwas enttäuscht, als er erfährt, dass Hazel sich einen Besuch im Vergnügungspark gewünscht hat. Deshalb schenkt er ihr seinen Herzenswunsch, der nach der Lektüre von Hazels Lieblingsbuch auch zu seinem wird – den Autor von „Ein herrschaftliches Leben“ zu treffen. Das Buch endet mitten im Satz – Fragen drängen sich auf, wie die Geschichte weitergeht.

Nach einigen Bedenken, die  Hazels Ärzte äussern, tritt sie in Begleitung ihrer Mutter und Gus die Reise über den Atlantik nach Amsterdam an, wo ein persönliches Treffen mit dem Autor arrangiert ist. Hazels Mutter lässt den beiden Teenagern genügend Freiraum und zieht sich diskret zurück. So verbringen die beiden eine aussergewöhnliche Zeit miteinander, die sie schliesslich auch ins Haus des Autors führt, der sich dann zwar als „Riesenarschloch“ herausstellt, denn er hängt ständig an der Flasche. Gemeinsam mit der Assistentin des Autors besuchen Hazel und Gus das Anne Frank-Haus und ausgerechnet in diesem Haus wird Hazel zum ersten Mal geküsst.

„Der Raum um uns verschwand, und einen merkwürdigen Moment lang mochte ich meinen Körper richtig gerne; dieses vom Krebs zerfressene Ding, das ich seit Jahren mit mir herumschleppte – plötzlich schien es all die Kämpfe wert zu sein, die Schläuche und Katheter und den unaufhörlichen körperlichen Verrat der Metastasen.“

Die Unbekümmertheit wird durch Gus‘ Geständnis im Hotel schnell zerstört. Noch vor der Abreise nach Europa wird bei ihm erneut der Ausbruch des Krebses festgestellt. Die Bestie frisst sich langsam und unerbittlich wieder durch seinen Körper. Die Therapie hat er für die Reise extra unterbrochen.

„Einen grossen Teil meines Lebens habe ich damit verbracht zu versuchen vor den Menschen, die mich liebten, nicht zu weinen. Daher wusste ich genau, was Augustus da tat. […] und weil du kein Kummer sein willst, darfst du nicht weinen, und das alles redest du dir ein, während du zur Decke siehst, und dann schluckst du, obwohl sich deine Kehle nicht schliessen will, und siehst den Menschen, der dich liebt, an und lächelst.“

Eine Faust legt sich mir auf den Magen und ich fange ebenfalls an zu schlucken, so sehr nehmen mich die Worte in Beschlag, als würde Gus mir diese schreckliche Mitteilung machen und nicht Hazel.

Hazel, die immer davon ausging, dass sie nicht mehr lange zu leben hat, begleitet nun ihren Freund im Krebs-Endstadium. Das Klingeln des Telefons schreckt sie jedes Mal auf – wer weiss, welche Nachricht sie erwartet. Die Eltern machen sich auch um ihre Gesundheit Sorgen und wollen Hazel nicht mehr aus dem Haus lassen, denn sie ist ständig unterwegs. Das Mädchen setzt all ihre Kräfte für ihren todkranken Freund ein. Sie hat sich inzwischen von ihren Eltern gelöst und eilt zu Gus, wann immer es ihr möglich ist – nichts und niemand kann sie aufhalten:

„Und jetzt wollt ihr, dass er endlich stirbt, damit ich wieder hier in diesem Kerker rumsitze und du dich wieder so um mich kümmern kannst wie früher. {…] Ich brauche dich nicht mehr wie vorher. Du brauchst mich, weil du diejenige bist, die sonst nichts im Leben hat.“

John Green hat einen aussergewöhnlichen Jugendroman geschrieben, mit Themen, die unter die Haut gehen. Ich rechne es dem Autor hoch an, dass er nicht den leichten Weg für das Ende des Buches gewählt hat, es verkommt auch nicht zur Schnulze. Lachen und Weinen wechseln sich ab. Mit viel Witz und Ironie versuchen diese Teenager ihrer Krankheit etwas den Ernst zu nehmen. Sie wollen so normal wie möglich behandelt werden. Manche Situation wirkt urkomisch und man wagt zu lachen.Trotzdem blieb mir das Lachen manchmal im Halse stecken, denn die Tränen schmuggelten sich am Lachen, in die erste Reihe vorbei.

Die Altersangabe von dreizehn Jahren finde ich eher an der unteren Grenze, schon der Sprache wegen, und es wäre wünschenswert, wenn der junge Leser mit der Lektüre nicht alleine gelassen, sondern von Erwachsenen begleitet würde, um über den Lesestoff sprechen zu können, denn Krankheit und Tod verbindet man im Normalfall mit Alter und nicht mit Jugend. Ich wünsche dem Buch auf jeden Fall viele Leser – Jugendliche sowie auch Erwachsene.

Gerade in diesen Tagen, schlug ich die Zeitung auf und fand auf der Seite der Todesanzeigen ein Inserat der Krebsliga, mit dem Text „1 von 3 erkrankt im Laufe des Lebens an Krebs“. Einen Tag später finde ich in unserem Briefkasten einen Spende-Brief der Krebsforschung und ein Arbeitskollege erzählte mir, dass ein Freund von ihm eine achtstündige OP vor sich habe – Diagnose Darmkrebs. Eine Krankheit, die uns, in irgendeiner Weise, alle angeht.


Retten Sie wenigstens mein Kind

Ich habe mich wieder einmal auf der Verlagsseite des Schweizerischen Jugendschriftenwerks (SJW) umgesehen, von dem ich letztes Jahr bereits berichtet habe und mir ist wieder ein Titel ins Auge gestossen, den ich sehr lesenswert finde. Die Autorin Monika Fischer hat mit zehn Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg als Kind oder junge Erwachsene erlebt haben, gesprochen und ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Im ersten Teil kommen Juden zu Wort, die verfolgt und gedemütigt wurden, die das Konzentrationslager überlebt oder geliebte Menschen dadurch verloren haben, die durch halb Europa auf der Flucht waren und schliesslich in der Schweiz doch noch einen Zufluchtsort gefunden haben.

„Alfred kam ins berüchtigte Arbeitslager nach Lublin. Dort mussten die jungen Männer hart arbeiten. Wenn sie erschöpft und ausgehungert waren, wurden sie erschossen. So auch mein Bruder.“

Es werden Menschen erwähnt, die den Mut hatten den Verfolgten und Verzweifelten zu helfen, die Menschlichkeit hat über ihre Furcht und die Vorurteile gegenüber den Flüchtlingen gesiegt.

„Die einheimische Bevölkerung nahm uns gut auf. Es waren einfache Bauersleute. Sie hatten noch nie Juden gesehen und waren erstaunt, dass wir ganz normale Menschen sind. Sie verkauften mir Gemüse, Früchte und Brot, waren nett und hilfsbereit. Dies hat mir beim Tod meines Kindes sehr geholfen.“

Auch Schweizer kommen zu Wort, die von jener Zeit auf die eine oder andere Art geprägt wurden, wie zum Beispiel ein Grenzwächter, der oft nicht begriff, was er für Befehle umzusetzen hatte und doch hin und wieder ein Auge zudrückte.

„Manchmal vernahmen wir von einer geplanten Flucht. Dann ordnete ich an, dass in jener Nacht im betreffenden Abschnitt keine Grenzwächter patrouillierten.“ […] „Täglich standen wir 16 Stunden an der Grenze und fertigten 2000 bis 3000 Flüchtlinge ab. Viele Frauen kamen mit Kinderwagen. Andere hielten ihre Kleinkinder auf dem einen Arm und trugen am andern einen Koffer.“

Ein Mann, der als junger Soldat Aktivdienst an der Grenze zu Italien verrichtet hatte und später im Hotel der Eltern, das an der österreichischen Grenze liegt, erinnert sich an tragische Momente:

„Eines Tages hörte ich beim Heuen ein Geschrei auf der Brücke in der Nähe unseres Hotels. Der Zöllner musste drei Männer und zwei Frauen mit einem Baby zurückweisen. Es tue ihm leid, er verliere sonst seinen Posten […] Unverhofft sprang eine der Frauen zu meiner Mutter, kniete nieder, legte ihr das Kind zu Füssen und bat: „Retten Sie wenigstens mein Kind!“ Blitzschnell rannte sie davon. Der überraschte Zöllner wollte das Kind zurückbringen. Doch meine Mutter wehrte sich zusammen mit einer andern Frau für das Kind. Es wuchs in der Familie eines Zöllners auf. Von seinen Eltern hat es nie wieder etwas gehört.“

Eine Frau, die im Jura aufgewachsen ist und für das Rote Kreuz in Frankreich gearbeitet hat, wurde mit anderen Vertrauenspersonen zur Fluchthelferin und erzählt, wie sie Verfolgte über die grüne Grenze brachte.

„Es war eine Frage der Menschlichkeit. Ich hatte keine Angst. Es ist wie mit der Besteigung der Eigernordwand. Wer vor solchen Unternehmen Angst hat, darf sich nicht darauf einlassen.“

Jede einzelne Geschichte ist erschütternd, regt zum Denken an und gibt wiederum Grund zur Hoffnung. Ich finde es bemerkenswert, dass sich diese, inzwischen alten, Menschen, zur Verfügung gestellt haben, um ihre Erlebnisse und Eindrücke von damals zu erzählen. Für die Nachwelt ist es nach wie vor wichtig, dass sie von jenen dunklen Jahren erfahren. Ich hoffe, dass viele Eltern für ihre Kinder oder andere Interessierte dieses Büchlein bestellen und sich diese Geschichten, die einem durch und durch gehen, lesen und mithelfen, dass sich an unseren Grenzen und in der Welt solche Tragödien nie mehr wiederholen können.

„Retten Sie wenigstens mein Kind“ von Monika Fischer
Schweizerisches Jugendschriftenwerk
ISBN 3-7269-1002-6

Fatima und der Traumdieb

Rafik Schami muss ich hier wohl kaum mehr vorstellen. Ich hatte letzten Herbst das Vergnügen, ihn bei einer „Lesung“ am „Zürich liest“-Festival kennenzulernen. Der Autor ist wirklich der geborene Erzähler, so war ich auf dieses Kinderbuch sehr gespannt.

In der Geschichte geht es um einen Traumdieb, der seinen Knechten den Lohn und auch die Träume raubt, die er danach genüsslich verspeist. Hassan, Fatimas älterer Bruder fällt ebenfalls auf diesen Schurken herein. Als er sich als Knecht beim Schlossherr anstellen lässt, wird ihm, nach einer Woche Arbeit, ein Goldstück als Lohn in Aussicht gestellt. Das einzige, was er sich nicht erlauben darf, ist sich zu ärgern. Das klingt sehr einfach, dachte er sich und machte sich fröhlich an die Arbeit. Der verschlagene Schlossherr lässt die ganze Woche verstreichen und erst am letzten Tag, betreibt er Gemeinheiten gegen Hassan, der zähneknirschend und innerlich kochend, alles über sich ergehen lässt, bis ihm schliesslich doch noch der Kragen platzt und er ohne Lohn und seiner Träume beraubt, niedergeschlagen nach Hause trottet.

Fatima, seine um zwei Jahre jüngere Schwester, will sich nun ebenfalls im Schloss um die frei gewordene Stelle bewerben. Sie ist sich sicher, dass sie den Traumdieb überrumpeln kann. Als das Mädchen nach dem Lohn fragt, wird ihr wieder ein Goldstück in versprochen, doch dieses möchte sie zuerst einmal sehen und prüfen. Wie üblich, darf sich Fatima nicht ärgern. Das Mädchen dreht nun den Spiess um und schlägt dem Schlossherrn einen Deal vor: zwei Goldstücke als Lohn, sollte sich der Herr ärgern.

Was sich die clevere Fatima einfallen lässt, damit sie zu den Goldstücken kommt und ihrem Bruder die geraubten Träume zurückbringen kann, ist herrlich zu lesen und ein wunderbarer Erzählspass in einer Kinderrunde.

Im NordSüd Verlag ist dieses Buch von Rafik Schami erschienen, illustriert wurde es von Ulrike Baier. Es ist das erste in der Reihe UNICEF und jedes Buch hat einen der 54 Artikel  aus der UN-Kinderrechtskonvention im Mittelpunkt. Vom Verkauf eines Buches aus dieser Reihe, gehen zwei Franken an die UNICEF. Eine gute Sache, wie ich finde, denn die Kinder werden nach wie vor viel zu wenig geschützt. Deshalb habe ich diese Aktion gerne unterstützt.

James Joyce, Bichsel, Kafka und Co.

Letzte Woche habe ich von den Leseheften des Schweizerischen Jugendschriftenwerks berichtet. Inzwischen habe ich vier Hefte erhalten und gelesen. Es handelt sich um Kurzgeschichten für Kinder ab 8 bzw. 9 Jahren und wurden von verschiedenen Künstlern illustriert. Zum Beispiel erzählt James Joyce seinem Enkel Stephen die Legende von Beaugency unter dem Titel „The cat and the devil“. Die Bewohner des Städtchens Beaugency haben keine Brücke, um über die Loire zu kommen. So spricht der Teufel eines Tages beim Bürgermeister vor und verspricht, in einer Nacht eine Brücke aus Stein über den Fluss zu erstellen, einzige Bedingung – der erste Bürger, der die Brücke überquert solle ihm gehören. Denn Ausgang der Erzählung lasse ich offen, jedoch erinnert sie mich stark an die Legende von der Teufelsbrücke im Kanton Uri.

James Joyce hat die Geschichte „Stevie“, wie er seinen Enkel liebevoll nannte, in einfachen Worten erzählt bzw. für ihn aufgeschrieben. Der Junge war zu jener Zeit gerade einmal vier Jahre alt. Wie wir wissen, ist Joyce’s Werk für erwachsene Leser nicht unbedingt einfach geschrieben. Roger Blachon hat die Geschichte sehr schön illustriert.

Ausserdem habe ich Peter Bichsel’s Geschichte „Die Erde ist rund“ gelesen.

Ein alter Mann um die achtzig weiss zwar, dass die Erde rund ist, so steht es geschrieben und so wird es erzählt. Er weiss, wenn er immer geradeaus geht, kommt er an den Tisch, an dem er jetzt sitzt zurück, aber er glaubt es nicht, also will er es ausprobieren, denn er hat ja nichts sonst zu tun. Er kauft sich einen Globus, zieht eine rote Linie darum herum, damit er auch wirklich geradeaus geht. Nun ist das aber ein Problem, denn wenn er immer geradeaus gehen will, muss er über Häuser, Bäume, Berge usw. steigen und so stellt er sich eine Liste zusammen, was er alles benötigt, um sein Vorhaben umzusetzen.

Als er auch feststellt, dass er einen Fluss überqueren muss, hört sich das so an:„Ich brauche ein Schiff“, schrieb er, „und ich brauche einen Wagen für das Schiff und ein zweites Schiff für die beiden Wagen und einen dritten Wagen für das zweite Schiff.“ Aber es kommt noch viel verrückter und verwirrender. Was uns Peter Bichsel an Sprachakrobatik und Sätzen liefert, macht einen schwindelig und ist sehr amüsant. So nach dem Motto „ich packe in meinen Rucksack….“. Seine Kurzgeschichte zu lesen ist ein herrlicher Spass :D.

Schliesslich habe ich noch eine Geschichte von Ilma Rakusa „Alma und das Meer“ und „Die Kreuzung“ von Franz Kafka gelesen. Franz Kafka weilte vor genau hundert Jahren in Zürich. Aus diesem Anlass veröffentlichte SJW diese Kurzgeschichte.

Es sind alles schöne literarische Texte für Kinder und Erwachsene, die diese Schriftsteller auch als Kinderbuchautoren entdecken wollen.