Schweizer Literatur zum Nationalfeiertag

Schweizer Flagge

Die Schweiz feiert heute ihren Geburtstag. 723 Jahre alt wird die Dame und hat nicht nur Kühe und Berge, Käse, Schokolade und Uhren anzubieten, sondern zeigt auch literarisch, was sie kann. Ob allen voran das „Heidi“ von Johanna Spyri, der Exportschlager Nr. 1 in alle Herren Länder, gibt es noch so einige Autoren, die sich lohnen zu lesen, zu entdecken oder wiederentdecken. Von Klassikern wie Dürrenmatt oder Frisch, soll hier nicht die Rede sein. Es gibt junge und junggebliebene Schriftsteller, Einheimische, zugewanderte oder ausgewanderte Autoren, von denen ich hier gerne einige empfehlen möchte:

Schweizer Export

Eveline Hasler, die immer wieder historische Themen wählt, sei das die Geschichte der Anna Göldin oder ihr letzter Roman „Mit dem letzten Schiff“, in dem sie viele jüdische Künstler auf ihrer Flucht aus Nazideutschland nach Amerika begleitet.

Mit dem letzten Schiff

Franz Hohler, Kabarettist und Schriftsteller, der den Leser immer mal wieder auf Wanderungen durchs Leben mitnimmt oder zu seinen Spaziergängen in Zürich oder sonst wo in der Schweiz und auf der Welt, wie in „Spaziergänge“

Spaziergänge

Auch mit Robert Walser kann man spazieren gehen, während andere der Arbeit nachgehen, überkommt ihn mitten am Tag die Lust, sich den Hut aufzusetzen und sich auf einen Spaziergang zu begeben.

Friedrich Glauser kennen manche Leser als Krimischriftsteller, doch es gab auch eine andere Seite von ihm. Glauser verfasste Gedichte. In diese kann man eintauchen in „Pfützen schreien so laut ihr Licht“ Gesammelte Gedichte (Nimbus Verlag)

S. Corinna Bille, einstige Prix Goncourt-Gewinnerin, und mit der Natur ihrer Heimat sehr verbunden, kann man dank dem Rotpunktverlag, wiederentdecken, bsp.weise in „Dunkle Wälder“ oder in ihrem ersten Roman „Theoda“

Dunkle Wälder

Theoda

Eine andere Schriftstellerin, Noëlle Revaz, ebenfalls eine französischsprachige Autorin, bringt dem Leser Bauer und Tier auf ganz andere Weise näher in ihrem Roman „Von wegen den Tieren“.

Von Wegen den Tieren

Auch der junge Autor Roman Graf, der in Berlin lebt, aber seine Protagonisten die Wanderschuhe in den Schweizer Alpen schnüren lässt, ist eine Entdeckung wert.

Niedergang

Patrick Tschan, hat mich mit seinem ersten Roman „Keller fehlt ein Wort“ sehr beeindruckt, inzwischen ist ein weiterer Roman mit dem Titel „Polarrot“ erschienen, in dem er sich auf historische Spuren begibt.

Keller fehlt ein Wort

Lukas Hartmann muss ich wohl kaum vorstellen. Er, der abwechselnd Kinderbücher und wieder Romane für Erwachsene schreibt. Ob er über das Leben des Räuberhauptmanns Hannikel erzählt, den Leser mitnimmt „Bis ans Ende der Meere“ oder am Schicksal einer Prinzessin aus Sansibar teilhaben lässt. Er hat das Erzählen im Blut und kann mich immer wieder begeistern.

Abschied von Sansibar

Alain Claude Sulzer, der mir mit „Ein perfekter Keller“ und auch mit „Zur falschen Zeit“ ausgezeichnet gefallen hat, schreibt er doch in beiden Büchern über homosexuelle Liebesbeziehungen, die sich vom Stoff her ausgezeichnet zu sehr anregenden Gesprächen in einem Lesekreis anbieten. Auch sein Roman „Aus den Fugen“ für den er im Jahre 2012 für den „Schweizer Buchpreis“ nominiert war, ist äusserst lesenwert.

Aus den Fugen

Thomas Meyer, der wohl einen der ungewöhnlichsten Romane der letzten Zeit mit „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schicke“ geschrieben hat, sollte hier auch nicht vergessen gehen. Der Autor ist selbst jüdischer Abstammung und spickt seine Geschichte mit jiddischen Ausdrücken, die zwar ungewohnt sind, aber mir sehr gefallen haben. Aus seiner eigenen Website kann man ihm keine E-Mail sondern einen Blitzbrief senden.

Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse

 

 

 

 

 

 

Offener Brief an John Williams

Lieber John Williams

Ich muss gestehen, dass ich, bevor ich Ihren Roman „Stoner“ in die Finger bekam, Ihren Namen nicht gekannt habe. Auf der einen Seite bin ich unendlich dankbar, dass Ihr Buch, das erstmals 1965 veröffentlicht wurde, nun auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, und wie ich betonen möchte, in einer ausgezeichneten. Gleichzeitig muss ich Ihnen gestehen, dass mich „Stoner“ dermassen begeistert hat, dass ich seither noch kein weiteres Buch richtig begonnen habe. Ihr Roman hat mich quasi aus der Lesebahn entgleisen lassen.

Die Geschichte hat mich mitgerissen, mein Herz berührt und erwärmt. Es ist lange her, dass mich ein Buch dermassen begeistert hat wie das Ihre. Manche würden sagen, dass ich sicher nicht richtig ticke, schliesslich gibt es Bücher wie Sand am Meer und von einem Buch so hin und weg zu sein, das kann doch gar nicht sein. Nun für mich ist es eben so. Sie haben genau die Art zu schreiben, die ich mag. Ähnlich fasziniert war ich von John Steinbeck oder Sherwood Anderson, wenn Sie mir diesen Vergleich erlauben.

Irgendwie kann ich es kaum glauben, dass „Stoner“ vor fast fünfzig Jahren keinen grossen Erfolg hatte. Schade können Sie nicht mehr erleben, wie die Leser von diesem Roman begeistert sind. Wir sprechen hier nicht von einem Action-Roman, eigentlich passiert überhaupt nichts, der Leser begleitet einfach einen bescheidenen Literatur-professor durch sein Leben. Allerdings gestaltete sich dieses ziemlich mühsam, hatte er sich doch in die falsche Frau verliebt und das seltsame Geschöpf auch noch geheiratet. Sie liess seinen Alltag zur Hölle werden, wenn er zu Hause war.

„Nach einem Monat wusste er, dass seine Ehe scheitern würde, nach einem Jahr hoffte er nicht mehr darauf, dass es je besser werden würde. Er lernte, mit der Stille zu leben und nicht auf seiner Liebe zu beharren.“

Selbst das gemeinsame Kind, das er über alle Massen liebte, entzog und entfremdete sie ihm. Nur kurze Zeit fand er die grosse Liebe seines Lebens. Aber Stoner lebte in der falschen Epoche des 20. Jahrhunderts. Ich hoffe doch sehr, dass er heute seine Bücher zusammenraffen und mit seiner Geliebten abhauen würde.

„In seinem dreiundvierzigsten Jahr erfuhr Williams Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.“

stoner

Auch an der Uni gab es einige Plagegeister. Ein Vorgesetzter schien ihn wirklich zu hassen und schikanierte ihn wo er nur konnte. Heute würde man dies Mobbing nennen. Ich glaube, wenn Stoner seine Literatur nicht gehabt hätte, er wäre am Leben zerbrochen. Doch jede Demütigung und jede Schikane ertrug er und behielt bis zum letzten Tag seines Lebens seine Würde. Für mich ist Stoner ein wahrer Held und ich habe Tränen vergossen, als ich das Ende der Geschichte kannte, so sehr war ich berührt. Und die eine oder andere Träne floss sicherlich auch, weil ich den Buchdeckel definitiv schliessen und Stoner gehen lassen musste. Im Moment will ich es noch immer nicht wahrhaben.

„Er wusste, nach und nach würde das kleine Zimmer, in dem er nun lag und aus dem Fenster sah, seine ganze Welt werden; schon jetzt konnte er undeutlich einen ersten Schmerz fühlen, der sich wie ein alter Freund aus grosser Ferne zurückmeldete.“

Stilistisch auf der ganzen Linie umwerfend, die Einfühlsamkeit, das Ungesagte zwischen den Zeilen und die Phantasie, die den Leser zum Nachdenken anregt ist einfach ganz grosse Literatur!

Haben Sie herzlichen Dank für dieses wunderbare Geschenk, das ich in meinem Herzen als ganz besonderen Schatz bewahren werde!

 

 

 

Meine Bibliothek nach der Apokalypse

Die Blogstöckchen fliegen munter weiter durch die Gegend und grenzübergreifend, diesmal in einer Form, dass es mich geradezu schauert. Losgetreten wurde es dieses Mal von Tobias vom blog „texte und bilder“ und zwar mit folgender Frage, die es in sich hat:

Wenn du drei Bücher vor der Apokalypse, die alle anderen Bücher auf dem Planeten zerstört, retten könntest – welche wären es?

Warum sind es ausgerechnet diese drei Bücher und die Begründung soll sich auf etwa 140 Zeichen pro Buch beschränken, was mehr als schwierig ist. Danach soll das Stöckchen an zwei Blogger weitergereicht werden.

Mir warf dieses apokalyptische Stöckchen Mara von buzzaldrins bücher zu und stellt mich da vor eine schwierige Aufgabe. Klar, wenn die Apokalypse ansteht, kann ich nicht noch einen Bücherkoffer mitschleppen, da sollte ich mich wirklich beschränken. Aber was wähle ich aus? Nun, ich habe mich jetzt wirklich sehr spontan entschieden, aber diese drei Bücher liegen mir sehr am Herzen, dass sie gerettet werden, denn sie sind es wert:

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1. John Steinbeck „Früchte des Zorns“

Will man etwas über die „Grosse Depression“ und das schwere Los der Wanderarbeiter erfahren, ist das der Roman schlechthin – absolut grandios!

2. Upton Sinclair „Der Dschungel“

Chicagos Schlachthöfe anfangs des 20. Jahrhunderts und die Ausbeutung der Fabrikarbeiter bleiben für mich unvergesslich – beeindruckend!

3. John Williams „Stoner“

Was lese ich überhaupt nach dem wiederentdeckten Roman über einen Literaturprofessor? Ich bin seit langem erstmals ratlos.

Ich werfe das Stöckchen nun Ingrid von DruckSchrift und Petra von Philea‘s Blog zu und hoffe, dass sie es auffangen und ebenfalls helfen, weitere Bücher zu retten 🙂

Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

„Diese Geschichte, die wir das Buch des Flüsterns nennen, ist nicht meine Geschichte. Sie begann lange vor meiner Kindheit, als man im Flüsterton sprach. Ja sie begann sogar lange bevor sie ein Buch wurde. Und begann auch nicht im Focșani meiner Kindheit, sondern in Siwas, in Diarbekir, in Bitlis, in Adana und in der Region Klikien, in Wan in Trapezunt, in allen Wilajeten des östlichen Anatolien, wo die Menschen meiner Kindheit geboren wurden, die zu den Helden dieses Buches zählen.“

Varujan Vosganian ist nicht nur Autor des vorliegenden Romans „Buch des Flüsterns“ sondern auch Politiker in Rumänien. Von 2007 bis 2008 bekleidete er das Amt des Finanzministers, heute ist er Wirtschaftsminister. Aufgewachsen ist er in Focșani, einer Stadt mit heute ca. 74‘000 Einwohnern und ca. 180 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bukarest gelegen.

Der Roman beginnt in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts, zurzeit als der Autor ein Kind ist. Etwa 39‘000 Menschen bevölkern die Stadt. Er hält sich gerne in der Nähe der Alten auf lauscht ihren Geschichten, nicht zuletzt auch den Erzählungen seines Grossvaters Garabet, der eine zentrale Rolle im Buch einnimmt. Er ist nicht nur Hüter vieler Namen und bewahrt für den einen oder anderen wichtige Zeugnisse auf, sondern er ist auch Fotograf. Die wichtigen Momente lassen die Armenier von ihm auf Fotos bannen.

„Ich spielte unter dem Tisch im Hof, wenn die Alten sich Geschichten erzählten oder schöne Lieder traurigen Inhalts summten … Schickt das Kind hier weg, sagte manchmal eine der Tanten. Lass es da, sagte Grossvater. Immer bleibt einer übrig, der erzählt. Vielleicht wird gerade er einmal der Erzähler sein.“

Was sich zuerst wie die Erinnerungen an eine Kindheit liest, entpuppt sich schon bald als die Geschichte eines ganzen Volkes. So nimmt mich Varujan Vosganian mit an ferne Schauplätze in Anatolien, in die Heimat seiner Vorfahren, wo im April 1915 Völkermord an den Armeniern begangen wurde, Unruhen jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang hatten. Vosganians Aufzeichnungen mäandern von einem Jahrhundert ins andere und wieder zurück, was das Lesen etwas erschwert. Er erzählt die Geschichten von Menschen, die den Genozid überlebt haben und darüber berichten können oder die noch zur rechten Zeit davor in den Westen flüchten konnten. Er nimmt mich mit auf den Todesmarsch von Sahag Seitanians Familie, durch die „sieben Kreise des Todes“, wie die einzelnen Stationen des Marsches von Anatolien bis zum Ziel in der Wüste Syriens genannt werden.

Die meisten Menschen haben diesen Marsch nicht überlebt. Sie wurden von ihren Bewachern in Höhlen getrieben, wo Feuer gelegt wurde und sie qualvoll verbrannten. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, Männer erschossen und anschliessend in die Schlucht geworfen, wo sie im Fluss davontrieben und ihre Körper das Wasser rot färbte. In diesen Momenten wird das „Buch des Flüsterns“ zum „Buch des Grauens“.

„In Meskene, an der Grenzlinie des vierten Kreises, trafen die Konvois wieder auf den Euphrat, das bewegte Grab vieler Tausender Deportierter. An der Flussbiegung jenseits von Meskene wurden die Leichen aus dem Norden angeschwemmt, die von Fluten noch nicht unterspült und von den Fischen gefressen worden waren.“

Bei solchen Kapiteln stockt mir buchstäblich der Atem und ich halte mir die Hand vor den Mund, so entsetzt bin ich, was ich hier zu lesen bekomme.

Hunger und Durst quält die Menschen, lässt sie krank und schwach werden und so kommt es, dass verzweifelte Mütter ihre Kinder für einen Kanten Brot oder einen Schluck Wasser hergeben.

Auch jenen Menschen, denen die Flucht übers Meer nach Rumänien gelingt, sind noch längst nicht gerettet. Denn als der Kommunismus Einzug im Land hält, müssen viele wieder um ihr Leben bangen und verlieren ihre aufgebaute Existenz erneut. So passiert es auch Hartin Fringhian, den alle nur den „Zuckerkönig“ nennen. Er hat sich ein Imperium von Zuckerfabriken geschaffen und legt sein Geld in Aktien, Staatsanleihen und Immobilien an. Da er selbst keine Familie hat, nimmt er die Namen seiner Arbeiter in seinem Testament auf. Doch dann muss er vor der rumänischen Miliz in die Berge flüchten, wo er mehrere Jahre unter Hirten lebt. Am Leib trägt er einzig seinen Smoking, den er bis zur Rückkehr ins Tal nie ablegen wird. Er kehrt zurück zu einer seiner Fabriken, die längst dem Staat gehört und sammelt im Obstgarten Nüsse auf. Die Arbeiter werden ihn nicht an die Miliz verraten und empfehlen ihm, nicht wieder zu kommen. Auch deren Namen setzt Hartin in seinem Testament ein.

Der Alte beginnt ein Geschäft mit Nüssen, in dem er die Nüsse salzt und röstet und sie in den Kneipen oder nach dem Gottesdienst im Innenhof der Kirche an Armenier verkauft. Bis zu seinem Tod geht er diesem Handel nach und jammert keinen Augenblick über sein Schicksal. Er lebt sehr bescheiden fällt niemandem zur Last. Nach seinem Tod findet man genug an Ersparnissen bei ihm, so dass die Gemeinde nicht für sein Begräbnis aufkommen muss.

„Er knackte die Nüsse sehr vorsichtig mit einem kleinen Schusterhammer, den er sich von Anton Merzian ausgeliehen hatte, dann entnahm er ihnen das ganze Innere, die Hälften noch fest miteinander verbunden. Auch heute, da ich das Buch des Flüsterns schreibe, ein halbes Jahrhundert nach jenen armenischen Festen und den Gesprächen nach dem Gottesdienst, die von den Armeniern im Kirchhof stets noch in die Länge gezogen wurden, gibt es nicht wenige Bukarester, die sich noch gut an Hartin Fringhian erinnern. Wie er die Kirche betrat, aus der Manteltasche ein paar Kerzenstummel nahm, die er wahrscheinlich von Arsag dem Glöckner aus Focsani, bekommen hatte, sie anzündete und dann hinausging, um reglos am Ausgang des Kirchhofs zu verharren, allerdings auf der Hofinnenseite, damit er nicht von der Miliz verjagt werden konnte. Dort verkaufte er seine wunderbaren Nusskerne, rund waren sie wie Taubeneier.“

Eine andere Geschichte im „Buch des Flüsterns“ ist Virginica gewidmet, die keinen Mann, der an ihre Tür klopft, auswählt, um zu heiraten, sondern sich in einen Häftling verliebt, der Soldat in der Roten Armee ist. Ihm bringt sie das feinste Essen in die Garnison und erzählt ihm auf ihren bewachten Spaziergängen ihre Träume und Erlebnisse bis ins kleinste Detail. Obwohl sie weiss, dass der Mann Frau und Kinder hat, hält sie diese Tatsache von weiteren Besuchen nicht ab. Als der Soldat einige Jahre nach dem Krieg in einem Militärtransport in die Sowjetunion zurückkehrt, fliegt auch Virginica auf und muss selbst drei Jahre im Gefängnis absitzen. Damit sie ihrem Liebsten all die erlesenen Essenspakete bringen konnte, wurde sie kurzerhand zur Diebin.

Und so reiht sich eine Geschichte an die andere. Viele von ihnen sind erschütternd und verlangen einem sehr viel ab. Auch die armenischen Namen prägen sich nicht so leicht ein. Doch immer wieder gibt es auch poetische Momente, vor allem wenn der Autor über das Essen berichtet und wie es zubereitet wird. Das Rösten und Mahlen des Kaffees ist geradezu sinnlich und der Duft setzt sich in der Nase von ganz alleine fest:

„[…] Vor allem kauften meine Grosseltern keinen gerösteten Kaffee oder – Gott bewahre! -gemahlenen. Wir hatten eine Kupferpfanne, die vom vielen Rösten schwarz geworden war. Im Deckel befand sich ein bestimmter Mechanismus, den man mit einer Kurbel in Bewegung setzte und der dafür sorgte, dass die Bohnen gleichmässig geröstet wurden. Auf kleiner Flamme dauerte dieser Vorgang etwa eine Stunde. Alles was wir Kinder bekamen, waren die gerösteten Bohnen. Wir lutschten daran, als wären es Bonbons, und wenn das Aroma sich verlor, knackten wir sie mit den Zähnen auf und zerkauten sie. […]“

Es gab Momente, wo ich nahe dran war, das Buch zuzuklappen, um es nicht wieder zu öffnen und ich hätte mir gewünscht, wenn es etwas zäh wurde, dass es etwa hundert Seiten weniger gehabt hätte. Schlussendlich habe ich mich aber immer wieder überwunden, Seite um Seite mit diesen Menschen weiterzugehen, den Schmerz, den sie erlitten haben und der sich wie ein Mahnmal in schwarzen Buchstaben in die Seiten einbrennt, als Leserin zu ertragen. Hätte ich nicht weitergelesen, wären mir Menschen entgangen, wie der „Zuckerkönig“ Hartin Fringhian, dessen Geschichte so sehr zu Herzen geht. Ich hätte Grossvater Garabet nicht kennengelernt, dessen Tod mich zu Tränen gerührt hat oder ich hätte Misak Torlakian nicht getroffen, der seine Familie rächen wollte, gekämpft und die Freiheit erhalten hat und trotzdem einsam und verloren in der Welt herumirrte und verzweifelt hoffte, nach Jahren, als ein Flüchtlingsschiff in Constanța einlief, seinen kleinen Bruder wiederzufinden.

Doch, wer die Geschichten dieser und anderer Menschen des armenischen Volkes erfahren möchte und sich nicht scheut, sich auf eine lange Reise, zu begeben, wo sich tragische und erschütternde, schöne und poetische Momente die Hand reichen, muss das „Buch des Flüsterns“ selbst in die Hände nehmen, einmal tief Luft holen und sich dem Erzählstrom von Varujan Vosganian anvertrauen, der ein unglaubliches Stück Geschichte vor uns ausbreitet.

Die Originalausgabe „Cartea soaptelor“ erschien 2009, wurde von Ernest Wichner aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzt und war an der Leipziger Buchmesse für den Übersetzerpreis nominiert.

Varujan Vsoganian: „Das Buch des Flüsterns“
Paul Zsolnay Verlag Wien, 2013
511 Seiten
ISBN 978-3-552-05646-6

Hier gibt’s mehr zu Armenien:

Zu Besuch bei Ella Maillart (Teil 2)

Ella Maillart, die Reisepionierin liess sich 1945 in Chandolin nieder, einem kleinen Dorf auf 2000 Metern Höhe, im Val d’Anniviers. Auch die Schriftstellerin Corinna S. Bille zog sich in einem Seitental in ihr Maiensäss zurück.

Wir waren im einzigen Bücherdorf der Schweiz, im Antiquariat „La plume voyageuse“, wo uns die Antiquarin mit einer Begeisterung riet, unbedingt den Wohnort von Ella Maillart zu besuchen, es erinnere sie stark an den Tibet. Die Dame musste es ja wissen, ist sie doch selbst weit in der Welt herumgekommen.

Da wir einige Tage im ältesten Hotel des Tales verbringen wollten, bot sich ein Abstecher ins höher gelegene Dorf geradezu an. Den Eingang ins Val d’Anniviers erreicht man vom Rhonetal bei Sierre. Die Strasse ist sehr kurvenreich und schraubt sich, den Felswänden entlang, langsam in die Höhe.

Strasse ins Val d'Anniviers

Als Beifahrer blickt man tief in die Schlucht hinunter. Da kommt manch einer ins Schlucken. Immer weiter stösst man nach hinten, bis sich das Tal öffnet und einen traumhaften Blick auf die Bergwelt freigibt, vor allem auf den Berg des Wallis, auf das Matterhorn. Allerdings zeigt sich der Berg von ungewohnter Seite – von hinten. Das tut der Faszination jedoch keinen Abbruch.

Matterhorn Von Vissoie aus geht es nochmals achthundert Höhenmeter hinauf. Die Strasse wird immer schmaler. Und schliesslich sind wir auf einem grossen, etwas öden Platz, wo auch für das Postauto Endstation ist. Ich mache einen Abstecher ins Tourismusbüro und erkläre, dass ich mich für Ella Maillart interessiere. Die Dame übergibt mir einen Schlüssel für das Museum, das im alten Dorfkern liegt. Das Dorf ist vom Platz aus nicht zu sehen. Einige Minuten Fussmarsch und wir erblicken erst einmal die Kirche.

Kirche Chandolin

Die typischen Walliser Häuser, deren Holz durch Jahrzehnte intensiver Sonneneinstrahlung schwarz geworden ist, kleben wie Schwalbennester am Steilhang. Und nun verstehe ich auch, was die Antiquarin mit Tibet meinte. Ob Tibet oder Ladakh, es geht einfach nur runter. Es erstaunt mich immer wieder, dass die Gebäude nicht abrutschen.

Chandolin

Im Dorf ist keine Menschenseele anzutreffen und schon stehen wir vor dem kleinen Museum, das in der alten Kapelle untergebracht ist. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, der tatsächlich passt und wir haben ein Museum ganz für uns allein. Keiner der uns den Blick vor den Vitrinen versperrt. Und in aller Ruhe können wir uns die Fotos, Dokumente, Bücher und Reise-Accessoires, die im einzigen Raum ausgestellt sind, ansehen und die Begleittexte lesen.

Notizbuch

Museum Ella Maillart

Eine Treppe führt ausserhalb der Kapelle ins Obergeschoss, wo ein kleiner Teil von Ellas Bibliothek untergebracht ist. Und dann wartet auf uns auch noch ein 45 minütiger Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens. Ein Journalist besuchte die Autorin wenige Jahre vor ihrem Tode und liess sie erzählen. Auch im Alter von 93 Jahren hatte die Frau eine sehr bestimmte Art aufzutreten und noch immer blitzte der Zorn aus ihren Augen, als sie berichtete, wie sie in der Schweiz als Kommunisten-Sympathisantin abgestempelt wurde, weil sie Russland intensiv bereist hatte. Es ist spannend, der Frau beim Erzählen zuzuhören.

Museum Ella Maillart

Im Tourismusbüro sagte man mir, dass ich den Schlüssel vor zwölf Uhr wieder abgeben müsste. Es ist zehn vor Zwölf – eilig schliessen wir hinter uns die Türen und hetzen den steilen Weg hinauf. Völlig ausser Atem, stürze ich noch rechtzeitig ins Büro, um meine Identitätskarte abzuholen und mich nach dem Laden zu erkundigen, wo Postkarten und Bücher von Ella Maillart zu kaufen sind. Der ist Gott sei Dank gleich vis à vis und ich stürme auf den letzten Drücker auch dort rein, denn es ist nicht sicher, dass am Nachmittag der Laden nochmals geöffnet wird. Es ist kein Ansturm von Kundschaft zu erwarten. Aber die Ladenbetreiberin wartet wohl gerne noch einige Minuten, wenn schon mal jemand vorbeikommt, um etwas zu kaufen.

Chandolin Umgebung

Die Einkäufe sind getan. Wir nehmen den Fussweg wieder zurück ins Dorf runter, machen Halt beim winzigen Alpenmuseum, das auch nur ein grosser Schaukasten ist und Flora und Fauna der Alpen präsentiert und erklärt.

Wir suchen das Häuschen von Ella Maillart, namens „Atchala“, wo sie bis zu ihrem Tod gelebt hat. Aber da ist niemand und doch scheint es mir, als müsste die alte Dame gleich um die Ecke kommen. Ihr Geist begleitet uns auf unserem Rundgang, auch als wir auf den Kalvarienberg steigen, wo sie sich gerne auf einer Bank niederliess und sicher den atemberaubenden Blick ins Rhonetal genossen hat. Kein Wunder, hat sich diese bemerkenswerte Frau hier oben wohl gefühlt, denn es ist ein schönes Fleckchen Erde. Reich beschenkt an Eindrücken kehren wir von unserem Ausflug zurück ins Hotel und haben noch viel zu diskutieren über eine Reisepionierin, die nur noch wenige kennen.

Chalet Atchala

Museum:
Espace Ella Maillart
CH-3961 Chandolin

Website: http://www.ellamaillart.ch

Photographien sind ausgestellt im Musée de l’Elysée, Lausanne
Website: http://www.elysee.ch

Ella Maillart_7