Darina, die Süsse, ist nicht etwa ein junges Mädchen, ein Kind oder eine junge Frau – nein, sie ist schon etwas in die Jahre gekommen, ihre Haare werden dünner, ihr Zopf ist grau. Und mit „die Süsse“ meinen die Dorfbewohner eigentlich, Darina, die Dumme, nur sprechen sie dies nie laut aus.
„Sie hatten weder Grips im Kopf noch Gott im Bauch, ihre Nachbarn, wenn sie dachten, sie sei dumm. Denn Darina war nicht dumm, süss war sie. […] Was war schon dabei, dass sie Dahlienknollen in eine Decke gewickelt hatte? Es war gerade Schnee gefallen, und der Frost hatte noch nicht nachgelassen. […] Hätte sie die Knollen etwa nackt durch die Kälte tragen sollen? Wasjuta trug ihren Enkel schliesslich auch nicht bloss in Unterhosen zum Kindergarten, sondern wickelte ihn erst in eine Decke, nahm ih dann auf und schuckelte ihn durchs Dorf. Was war eine Blume anderes als ein Kind?“
Solche und andere Gedanken macht sich Darina laufend über ihre Nachbarn. Tat der eine etwas Ähnliches wie sie, riss keiner das Maul auf und nannte ihn dumm, nur bei Darina. Darina hörte alles, aber sie sprach nicht mit den Menschen. „Worte konnten Schaden anrichten“, wusste sie, jedoch nicht mehr woher. Lieber sprach sie mit den Bäumen, den Blumen oder mit den Tieren. Sie litt fast täglich an fürchterlichen Kopfschmerzen und fand nur Linderung, indem sie bis über die Hüften ins Wasser des nahen Flusses stand und erst wieder herauskam, wenn sich der Eisenring, der sich um sie gelegt hatte, allmählich löste. Nur die Nachbarin Maria verteidigt Darina gegen das Gewäsch der Dorfbewohner und stopft so manches Lästermaul. Dann ist da noch Iwan, den alle nur Zwytschok – Nagler – nennen, da er Eisen und vor allem Nägel sammelt, um daraus Maultrommeln anzufertigen, die er dann auf dem Markt verkauft. Er schafft es, Darinas Zuneigung zu gewinnen und sich den Nachbarn erneut ein Grund bietet, ihre Mäuler zu zerreissen. Es kommt sogar so weit, dass er vor dem Gemeinderat antraben muss, um Red und Antwort zu stehen. Das bringt den armen Iwan dermassen in Rage, dass er für zwei Wochen in den Knast wandert und er versteht die Welt nicht mehr, als in Darina nach seiner Rückkehr wegschickt.
Der zweite Teil des Romans ist der Geschichte von Matronka und Mychajlo gewidmet, den Eltern von Darina. Das Zeitrad wird bis an den Anfang ihrer Liebe zurückgedreht. Sie erzählt den Alltag der Beiden, die sich selber genügen und sich freuen als ihre Tochter geboren wird. Wir schreiben das Jahr 1940, als Matronka plötzlich verschwindet, als sie mit den Schafen zum Flussufer des Tscheremosch geht.
Die Bukowina hat eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich. Der nördliche Teil gehört heute zur Ukraine, der südliche zu Rumänien. Das Tscheremosch-Tal liegt im Norden und der gleichnamige Fluss bildete von 1919 bis 1939 die Grenze zu Polen.
„Immer wieder geriet ihr Land in den Besitz eines anderen Staates wie eine willenlose Frau in die Hände eines geschickteren Mannes, und deswegen waren die Menschen an den Zwillingshügeln immer wieder und viele Jahre lang, aus denen manchmal Jahrhunderte wurden, durch eine Grenze mitten im Fluss getrennt. Den Fluss liessen solche Veränderungen unberührt.“
Maria Matios siedelt den zweiten Teil ihres Romans in dieser Zeit an, wo die Bewohner am Tscheremosch kaum noch nachvollziehen konnten, wer denn eigentlich gerade das Sagen hatte. Gehörten sie einst zur österreichisch-ungarischen Monarchie, waren sie plötzlich dem Königreich Rumänien zugeschlagen, dann gehörten sie kurz zu Polen und 1940 kamen die Sowjets und schliesslich quartierten sich vorübergehend auch die Nazis im Dorf ein.
Diese historischen Ereignisse werden geschickt im Roman eingebunden und mit dem Schicksal der Dorfbevölkerung und Darinas Familie verknüpft. Stück um Stück wird ein Puzzleteil ans andere gelegt, bis die ganze Tragödie in einem Gesamtbild vor einem ausgebreitet liegt. Trotzdem lässt Maria Matios humorvolle Momente einfliessen, bsp.weise, wenn die Dorfbewohner ihren Klatsch loswerden müssen und man kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Das Buch ist zum Teil harte Kost und lässt einem erschauern, doch es war für mich eine echte Entdeckung und ist eines meiner Literatur-Highlights dieses Jahres.
Maria Matios, geboren 1959 in Rostoky, in der Bukowina, lebt und arbeitet in Kiew. Sie zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautorinnen der Ukraine. Ihre Werke wurden in viele slawische Sprachen, aber auch ins Japanische und Chinesische übersetzt. Der Roman „Darina, die Süße“ wurde mit dem wichtigsten ukrainischen Literaturpreis, dem Schewtschenko-Preis, sowie als Buch des Jahres 2007 in der Ukraine ausgezeichnet. Bei den Parlamentswahlen 2012 kandidierte Maria Matios für die Partei UDAR (Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen) von Vitalij Klitschko. Im Rahmen ihrer politischen Tätigkeit macht sie auf fehlende demokratische Strukturen und Rechtsunsicherheit aufmerksam. Wegen ihres Einsatzes für Demokratie und Meinungsfreiheit sieht sich Maria Matios immer wieder staatlicher Willkür ausgesetzt.
Maria Matios: „Darina, die Süsse“
erschienen im Haymon Verlag, 2013
Übersetzung Claudia Dathe
231 Seiten
ISBN 978-3-7099-7006-5