Die Ebbe

Drei gescheiterte Existenzen treffen in Papeete aufeinander. Aus unterschiedlichen Gründen hat es Robert Herrick, John Davis und Huish nach Tahiti verschlagen, wo die drei Vagabunden unter einem anderen Namen in den Tag hineinleben, ohne Arbeit, ohne Geld und ohne Essen. Zu allem Übel grassiert die Grippe auf der Insel, die auf einem Schiff aus Peru eingeschleppt wurde. Diese hat auch den Kanzleischreiber Huish erwischt und er wird von Hustenanfällen nur so durchgeschüttelt. Captain Davis und der Gentleman Herrick sind ihm in diesen Momenten eine grosse Stütze, obwohl sie diesehn kleinen Wicht, mit dem verschlagenen Gesicht zu den verabscheuungswürdigsten Gesellen zählen. Denn sobald es dem Mann etwas besser geht, ist seine Zunge spitz und meist sehr beleidigend. Captain Davis ist in der Gesellschaft so weit unten angelangt, dass er für eine Mahlzeit vor den Kanaken singt und tanzt. Herrick hat sich aufgegeben und sein Selbstwertgefühl ist ihm abhandengekommen. Er, der aus gutem Hause kam und an der Universität studieren konnte, ist für nichts zu gebrauchen. Als sein Vater beruflich nochmals ganz von vorne anfangen musste, ging Robert nach New York, um dort in einem Kontor zu arbeiten. Allerdings erwies sich der junge Mann als unfähig, seine Familie in England finanziell zu unterstützen. Nie hielt er es lange an einer Stelle aus und als er in Kalifornien, bei einem Juden arbeitete, wurde er von diesem gar davongejagt.
„Irgendetwas, das kaum noch Stolz oder Stärke zu nennen war, sondern vielleicht nur Verfeinerung, hielt ihn vor der Kapitulation zurück; doch empfand er gegenüber seinem Unglück wachsenden Zorn und wunderte sich zugleich manchmal über seine Geduld.“
Captain Davis hatte sein Schiff verloren und ist nun wie ein Fisch ohne Wasser. Von Huish weiss man nur, dass er Schreiber war, doch was er ausgefressen hat, darüber schweigt er sich für einmal aus. Die grosse Chance, von Tahiti wegzukommen, erschliesst sich den drei armen Seelen, in Form eines Auftrages. Vom Konsul erfährt Davis, dass ein Schiff mit einer Ladung Champagner dringend einen Kapitän und einen Steuermann benötigt, da diese durch die Grippe dahingerafft worden sind. In einer vertraulichen Unterredung mit Herrick unterbreitet Davis seinen Plan, das Schiff mit seiner Ladung nicht nach Australien, sondern nach Peru zu steuern, wo er gedenkt, den Schampus zu verkaufen und mit dem Erlös zu Frau und Kindern heimzukehren. Herrick ist noch nicht so tief gesunken, dass er zum Dieb werden will und ist entsetzt über diesen Vorschlag.
„Wenn du ablehnst, weil du dir selbst zu ehrenwert vorkommst, dann sitzt du in weniger als einem Monat als Dieb im Knast. Darauf gebe ich dir mein Wort. Ich seh das kommen, Herrick, selbst wenn du’s anders siehst; du wirst schwach werden. Glaub bloss nicht, dass du wie ein Heiliger leben kannst, wenn du meinen Vorschlag ablehnst; du bist doch fix und fertig, und bevor du noch kapierst, wo du überhaupt bist, stehst du schon auf der unteren Seite. Nein, entweder du machst mit, oder du landest in Kaledonien. Ich wette du warst noch nicht da, hast noch nie die blassen kahl geschorenen Männer gesehen, die Lumpen und Strohhüte tragen […] die sehen wie Wölfe aus, oder wie Prediger, einfach krank; verglichen mit diesen Typen wirkt Huish wie der junge Frühling.“
Herrick wird kurzerhand zum Steuermann ernannt, nachdem er sich durchgerungen hat, Davis nicht im Stich zu lassen, obwohl er keinen blassen Schimmer von der Seefahrt hat. Der Kapitän trommelt die Schiffsmannschaft zusammen, die vorwiegend aus Kanaken besteht, und gibt gleich zu Beginn den Tarif durch. Das einzige Problem stellt sich in der Person von Huish, der nicht gewillt ist, Davis‘ Befehle zu befolgen, da er vom Vorhaben inzwischen weiss. Würde sich dieser nochmals an Land begeben und sein grosses Maul nicht im Zaum halten, dann wäre der ganze schöne Plan im Eimer. Erst einmal heisst es, wegkommen von Tahiti. Die Fahrt erweist sich bald schon als schwieriges Unterfangen, denn Huish hockt in der Kabine und öffnet eine Flasche Champagner nach der anderen. Nüchtern ist der Schreiber kaum anzutreffen und bald leistet ihm der Kapitän auch noch Gesellschaft. Herrick ist dadurch auf sich gestellt und tut seinen Dienst als Steuermann so gut er kann. Bei der Mannschaft ist er längst sehr beliebt und hält sich lieber an Deck bei den Matrosen auf, als sich zu den beiden grölenden Säufern zu begeben, die ihn zu tiefst anwidern. Nicht ungern würde er sich über Bord stürzen, um diesem jämmerlichen Leben ein Ende zu setzen. Wie konnte er sich nur auf diesen Betrug einlassen? Dann bahnt sich fürchterlicher Sturm an, der nichts Gutes verheisst.
„Der Captain hatte in der Nacht schwer getrunken und war alles andere als nüchtern, als man ihn weckte; und als er um halb neun zum ersten Mal an Deck kam, war sogleich klar, dass er auch zum Frühstück schon wieder tief ins Glas geschaut hatte. Herrick wich seinem Blick aus und überliess das Deck widerwillig einem schwer betrunkenen Mann.“
Herrick wächst endlich über sich hinaus und bringt den Kapitän mit Worten zur Vernunft, die diesen schwer treffen. Aber der Probleme nicht genug, denn die Männer entdecken, dass mit der Ladung etwas faul ist. Der Proviant wird knapp – Samoa liegt zu weit entfernt, um innert nützlicher Frist erreicht werden zu können. Eine Insel, die nicht in den Karten eingezeichnet, aber von einem Matrosen auf dem Ausguck gesichtet wird, wird angelaufen. Ist dies die Rettung?
„Die Insel war wie der Rand einer grossen, in den Wassern versunkenen Schale; sie war wie die Böschung einer ringförmigen, mit Bäumen bestandenen Bahnlinie: Zwischen den tosenden Brechern wirkte sie so schmal, so zerbrechlich und schön, dass er sich kaum gewundert hätte, wäre sie lautlos versunken und verschwunden und hätten die Wellen sich sanft über ihrem Untergang geschlossen.“
Die Männer treffen auf eine Art Gutshof, auf dem ein weisser Engländer mit einigen Kanaken lebt. Was treibt dieser Herr an diesem gottverlassenen Ort? Davis horcht ihn aus und vermutet, dass der Mann im Besitz von Perlen sein könnte, aber wo versteckt dieser die Kostbarkeit? Ein teuflischer Plan wird ausgeheckt und soll in die Tat umgesetzt werden. Was die drei Männer vorhaben, sei an dieser Stelle nicht verraten.
Es ist lange her, seit ich „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson gelesen und bei der Fernsehserie mitgefiebert habe. Dem Herbstprogramm vom Manesse Verlag ist es zu verdanken, dass ich in den Genuss dieser spannenden Geschichte gekommen bin. 1894 wurde der Roman, kurz vor dem Tod des schottischen Autors, im Original unter dem Titel „The Ebb-Tide“ herausgegeben. Stevenson war ein begnadeter Erzähler, der mich mit seiner Erzählweise mitgezogen hat. Nicht zu Unrecht wurde er von den Leuten auf Samoa „Tusitata“ – der Geschichtenerzähler – genannt, wie ich aus dem Nachwort von Klaus Modick erfahre. Der Autor hat drei Figuren geschaffen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und es ist fesselnd und spannend gleichermassen, wie die drei Männer in ihrer ausweglosen Situation agieren. Es entsteht ein fein gezeichnetes Bild dieser Gestrandeten vor dem inneren Auge und während ich Huish am liebsten am Schlafittchen gepackt hätte, um diesen Tunichtgut über Bord zu werfen, wünschte ich mir, dass die anderen zwei doch noch den richtigen Weg fänden.
Robert Louis Stevenson hat mich in die Südsee entführt und ich wurde in einen Bann gezogen, der mich nicht mehr los lies. Ich wurde wieder zu dem jungen Mädchen, das damals „Die Schatzinsel“, auf dem Bauch liegend, verschlang und auf grosse Schiffsreise in eine unbekannte Welt ging. Der Autor hat einen Abenteuerroman und gleichzeitig eine Gesellschaftsstudie geschickt miteinander verwoben – ein wahrer Meister seines Faches, den es mit diesem Klassiker der Weltliteratur wieder zu entdecken gibt und der Lust macht, gleich die Segel zu setzen und auf dieses Atoll mit dem weissen Sandstrand zu segeln, wäre der Weg nicht so weit.
Robert Louis Stevenson: „Die Ebbe“
aus dem Englischen von Klaus Modick
Verlag Manesse
ISBN 978-3-7175-2244-7 (315 Seiten)