„Als Arjadna das Licht der Welt erblickte, war ihre Mutter Lisa zwanzig, ihre Grossmutter fünfundvierzig und ihr Grossvater fünfundsechzig Jahre alt.“
Arjadnas Grosseltern gehörten einem russischen Adelsgeschlecht an, das mit der Revolution 1917 sein Ende fand. Die Grosseltern entgingen dem sicheren Tod, in dem sie sich den politischen Gegebenheiten anpassten und deshalb wurde aus Scheremetjewa kurzerhand der bürgerliche Name Schermet.
Innerhalb der Familie wurde trotzdem auf gute Manieren und Bildung Wert gelegt, so war es nicht verwunderlich, dass Arjadnas Vater, als Mann aus dem einfachen Volke, nur ein kurzes Gastspiel in der gräfischen Familie gab. Mutter Lisa war noch viel zu jung, um sich gegen ihre Eltern aufzulehnen. So wächst Arjadna, kurz Ada genannt, ohne ihren Vater auf. An Liebe und Fürsorge sollte es ihr deswegen aber nicht mangeln.
Als Ada zwanzig Jahre alt ist, heiratet sie das erste Mal. Ossja ist Medizinstudent und angehender Urologe. Ada, die keine speziellen Fähigkeiten hat, studiert erst einmal an der Philosophischen Fakultät. Der Rest würde sich schon geben.
„Ada hatte keine klar ausgeprägten Talente, ausser dem Talent zu gefallen. Sie gefiel allen ohne Ausnahme: den Jungen und den Alten, den Klugen und den Dummen, den Katzen und den Hunden, den Militärs und den Bürokraten.
Ada hatte auch keine besonderen Neigungen. Sie wollte lieben und geliebt werden und mehr nicht.“
Ada schenkt einem Sohn das Leben, der, nach einem schwierigen Jahr, endlich ein Kindermädchen zur Betreuung erhält. Die alte Tante Gruscha ist ganz vernarrt in den Jungen und kümmert sich fortan um Marik, so dass Ada unbesorgt ihrer Arbeit beim Fernsehen nachgehen kann.
Mit der Perestrojka ändert sich auch das Leben der Menschen in Russland. Obwohl es Ada und ihrer Familie gut geht, fehlt ihr etwas.
„Aber Ada wartete die ganze Zeit auf irgendetwas. Es war wie auf dem Bahnhof: Um sie herum Getümmel, jede Menge Leute, aber all das war nur vorübergehend, denn es war fremdes Getümmel, fremde Menschen. Und dann würde ihr Zug kommen und sie mitnehmen in ein anderes Leben.“
Als Mirka, die ständig auf Adas Leben eifersüchtig ist, einen Freund zum Essen mitbringt, fängt es auch in Adas Leben wieder an zu prickeln. Sie verliebt sich ausgerechnet in einen Mann, der beim KGB arbeitet. Ob Spion oder Wissenschaftler spielt keine Rolle, denn Ada liebt den Mann und nicht dessen Beruf. Sie sind füreinander bestimmt – selbst ein Auslandaufenthalt ihres Geliebten, kann die beiden nicht auseinanderbringen. Ada scheint ihr Glück gefunden zu haben.
In kurzen und knappen Sätzen, bringt mir Viktorija Tokarjewa den Alltag der Russen
näher, die sich immer wieder mit neuen Gegebenheiten arrangieren müssen und das
Beste daraus machen. Mit viel Humor beschreibt sie die Menschen und die
Tischgespräche geben einen tiefen Einblick in die russische Seele. Gekonnt
flicht sie dabei die Geschichte des Landes mit ein, ohne zu langweilen. Sie läuft ganz automatisch mit wie ein Film. Auch ihre Protagonistin Ada muss sich immer wieder umstellen und einige Schicksalsschläge wegstecken. Dank ihrer Kreativität und ihres Geschicks erarbeitet sie sich im Laufe ihres Lebens einen gewissen Wohlstand und wird vor allem durch die Liebe beflügelt. Ihre quirlige Freundin Mirka spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle und ist stets zum richtigen Zeitpunkt zur Stelle. So kann ich mit einem Lächeln das Buch zuklappen und Ada beruhigt ihres Weges ziehen lassen.
„Ada vertrocknete ohne Zärtlichkeit. Lieben und geliebt werden, das war ihre Selbstverwirklichung. Tage ohne Liebe, das waren für sie Tage, die an den Teufel verschenkt sind. Sie hatte dem Teufel ein ganzes Jahr geschenkt, ganze zwölf Monate. Sie hatte wie unter Wasser gelebt, ohne Luft zu holen und mit geschlossenen Augen, ohne auch nur zu blinzeln. Aber jetzt tauchte sie auf und schwamm ans Ufer.“
Viktorija Samojlovna Tokarjewa, wie die Autorin mit vollem Namen heisst, wurde 1937 in St. Petersburg (Leningrad) geboren. Sie schloss ihr Studium an der Leningrader Musikhochschule im Fach Klavier ab und studierte bald darauf an der Moskauer Filmhochschule das Drehbuchfach. Es entstanden mehr als 15 Filme nach ihren Drehbüchern und sie erhielt zweimal den ersten Preis beim Internationalen Moskauer Filmfestival. Ab 1964 widmete sie sich voll und ganz der Literatur, nachdem ihre erste Erzählung veröffentlicht wurde. Sie lebt heute in Moskau.
Viktorija Tokarjewa: Leise Musik hinter der Wand
Erscheinungsjahr 2013
Diogenes Verlag
176 Seiten
ISBN 978-3-257-06861-0