Auf den Spuren des Bolero

Der Nebel von gestern

Mario Conde hat den Polizeidienst in Havanna an den Nagel gehängt und betätigt sich seit nun mehr als zehn Jahren als Buchhändler. Er kauft ganze Bibliotheken auf, die ihm Privatpersonen anbieten.

„Jede zum Kauf angebotene Bibliothek war immer auch ein Liebesroman mit tragischem Ende, dessen Dramatik nicht nur von der Menge und Qualität der geopferten Bücher abhing, sondern mehr noch von den Wegen, auf denen diese in ein bestimmtes Haus gelangt waren, und den tragischen Gründen, aus denen sie nun zu Markte getragen wurden. Deshalb lernte El Conde schon bald, dass Zuhören ein wesentlicher Teil seines Geschäftes war, verspürten die meisten Kunden doch unverkennbar, das Bedürfnis, die Gründe für ihren verzweifelten Schritt darzulegen, und sei es nur, um sich damit von Schuld freizusprechen.“

Eines Tages betritt er die auserlesene Bibliothek der Geschwister Amalia und Dionisio Ferrero, in einer heruntergekommenen Villa. Die Geschwister, die diese Bibliothek jahrzehntelang für den rechtmässigen Besitzer wie einen Schatz gehütet haben, sehen sich gezwungen, erstmals aus dem wertvollen Bestand Bücher zu verkaufen. Ihre Geldmittel sind knapp, der Hunger aber gross.

Conde ist sprachlos, als er einen ersten Blick auf einige Bücher wirft. Er ahnt, dass hier ein Vermögen schlummert, denn es sind Erstausgaben aus vergangenen Jahrhunderten darunter, die hohe Preise auf dem Markt erzielen würden. Die ganze Geschichte Kubas lagert in diesen Regalen. Er unterbreitet den Geschwistern einen fairen Handel und nimmt erst einmal wenige Bücher mit, um sie weiterzuverkaufen. Unter anderem nimmt Conde ein altes Kochbuch mit, in dem er einen Zeitungsartikel über die Bolero-Sängerin Violeta del Rio findet, die darin ihren Abschied von der Bühne bekannt gibt. Der Zeitungsausschnitt stammt aus dem Jahr 1960. Conde hat den Namen dieser Sängerin noch nie gehört, ist aber vom ersten Moment an fasziniert von ihrem Bild und setzt sich in den Kopf, mehr über diese Dame zu erfahren.

Zusammen mit einem Freund stöbert er bei einem Musikspezialisten eine Platte von ihr auf und ist vom Gesang betört. Was ist aus dieser Frau geworden, deren Name allen unbekannt ist? Der Ermittler aus vergangenen Tagen erwacht in ihm und er hat vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Er trifft auf einen ehemaligen Journalisten, der ihm Einiges über die Sängerin erzählen kann, hat er diese doch persönlich gekannt. Obwohl Conde zu seinem Bedauern erfährt, dass Violeta del Rio, kurz nach ihrem Bühnenrücktritt, Selbstmord begangen habe, reicht ihm das nicht, um die Angelegenheit ruhen zu lassen. Nun ist seine Neugier erst recht geweckt und er hofft, eine alte Freundin von Violeta del Rio zu finden, die ihm hoffentlich mehr berichten kann.

Warum fasziniert ihn diese Frau so? Und warum lag zwischen den Seiten eines Buches, aus dieser Bibliothek, ausgerechnet dieser Zeitungsausschnitt? Er ist besessen darauf, der Sache auf den Grund zu gehen. Er spürt, dass die Geschichte der Violeta del Rio mit dem Besitzer dieser Bibliothek eng verknüpft sein muss und dass mehr dahinter steckt als die Geschwister Ferrero zugeben.

Der ehemalige Polizist weiht seine Freunde bei einem Ess- und Trinkgelage in seine Absichten ein und bittet sie um ihre Mithilfe. Mit und ohne sie wagt er sich in Havannas Stadtviertel vor, die Einheimische, die nicht dort wohnen und schon gar keine Touristen betreten sollten. Er sucht einen Schwarzen auf, der früher für ihn als Informant tätig war und wagt sich auf gefährliches Terrain vor. Bei all seinen Recherchen vergisst er für einen Moment, die Geschwister Ferrero und als er mit seinem Freund Yoyi in die Villa zurückkehrt, um weitere Bücher zu erwerben, ist die Polizei wegen eines Mordes vor Ort und erstmals steht Conde auf der anderen Seite und muss für eine Vernehmung aufs Präsidium.

„Während er mit einem schmierigen Lappen versuchte, seinen Fingern ihre natürliche Farbe zurückzugeben, wurde sich Mario Conde quälend bewusst, dass er selbst Hunderte von Malen andere Menschen, ob schuldig oder unschuldig, der gleichen entwürdigenden Behandlung unterworfen hatte, und seine nachträgliche Scham darüber war grösser als die über seine eigene Demütigung. Schlagartig verstand er den Grund für die bösen, hasserfüllten Blicke der Menschen, die diese Prozedur über sich ergehen lassen müssen. Er wusste natürlich, dass Polizisten ein notwendiges gesellschaftliches Übel waren. Einerseits hatten sie die Aufgabe zu helfen und zu beschützen, wie einer der euphemistischsten Sprüche, die man sich vorstellen kann, besagte; andererseits, viel zu oft waren sie nur dazu da, zu drangsalieren und die Belange der Macht durchzusetzen.“

Je länger ich an der Story dran bleibe, desto mehr packt sie mich, obwohl ich nun wahrlich keine Krimileserin bin. Es geht aber um viel mehr als um die Auflösung eines Mordes und den mysteriösen Tod von Violeta del Rio. Es geht auch um den Alltag der Menschen auf Kuba, die Geschichte ihres Landes am Ende der 1950er-Jahre unter dem Regime von Batista und der Zeit, als das Geld, dank der Casinos und Nachtlokale reichlich vorhanden war und die Elite finstere Geschäfte mit der amerikanischen Mafia tätigte wie bsp.weise mit Meyer Lansky, der in diesem Roman ebenfalls erwähnt wird.

Leonardo Padura nimmt mich als Leserin an der Hand und führt mich durch die Stadtviertel Havannas, zeigt mir abstossende Seiten des Verfalls und der Kriminalität, aber auch Momente, in denen die Menschen fröhlich sind und ausgelassen zu feiern verstehen, wenn der Tisch wieder einmal reichlich mit Essen gedeckt ist. Er zeigt Menschen, die sich die Lebensfreude nicht verderben lassen, auch wenn jeder Tag ein harter Überlebenskampf für sie ist.

Der Roman ist also nicht nur etwas für Krimifans, sondern auch für bibliophile, musik- und geschichtsinteressierte Leser. Nach oder mit der Lektüre ein Bolerostück oder etwas von „Buena Vista Social Club“ hören und schon befindet man sich mitten im Herzen von Kuba und fühlt sich nah am Geschehen. Fehlt nur noch, dass man sich an den Tisch mit Mario Conde und seinen Freunden setzen und über Gott und die Welt philosophieren kann. Ich wünsche unterhaltsame und spannende Stunden mit diesem fesselnden Roman!

Leonardo Padura Fuentes wurde 1955 in Havanna geboren und gehört zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Schriftstellern Kubas. Er hat in Havanna Literaturwissenschaft studiert und als Journalist gearbeitet. 1989 begann er Kriminalromane zu schreiben und wurde international mit seinem „Havanna-Quartett“ bekannt, seinen Romanen mit der Hauptfigur Mario Conde, einem Polizisten der ungewöhnlichen Art.

Leonardo Padura: „Der Nebel von gestern“
Unionsverlag
Erscheinungsjahr 2010
Seiten 379
ISBN 978-3-293-20484-3

Informationen zu Leonardo Padura im Unionsverlag
über den Bolero

Zum Einstimmen mit der Musik des Bolero: „Besame mucho“, interpretiert von Cesaria Evora, die mit ihrer Stimme verzaubert

„Der Bolero stammt aus der Karibik, er ist in Kuba entstanden, und von hier aus wurde er nach Mexiko, Puerto Rico und Kolumbien exportiert, wo er heimisch geworden ist. Boleros sind die Liebeslyrik der Tropen, manchmal etwas kitschig, was sollen wir machen, wir sind kitschig, aber immer steckt Wahrheit darin.“ (Katy Barqué zu Mario Conde über den Bolero)

Filmperlen im August

Es ist Sommer und zurzeit gerade wieder einmal ungewöhnlich heiss. Da geniesst man die Zeit lieber im Freien. Trotzdem gibt es einige Filme und Dokus auf Arte TV, auf die mein Auge gefallen ist und ein Seh- und Informationsgenuss sein dürften. Deshalb bringe ich für Regenabende meinen Videorecorder in Programmierstellung.

Freitag, 3. August 2012, 14.25 Uhr

„Durch die Nacht sehe ich keinen einzigen Stern“ (2004)

mit Corinna Harfouch / Regie: Dagmar Knöpfel

Ein filmisches Porträt über die berühmteste tschechische Schriftstellerin
Božena Němcová, die im 19. Jahrhundert frei und selbstbestimmt leben wollte und sich die Gesellschaft deshalb an ihr rächte.

Ich kenne diese Schriftstellerin, zu meiner Schande nicht einmal, deshalb werde ich mir diesen Film auf alle Fälle aufnehmen.

6. und 13. August 2012, jeweils um 0.55 Uhr (schon deswegen muss ich die Filme aufnehmen)

„Koyamaru“ Dokumentarfilm von Jean-Michel Alberola

Während zwei Jahren hat der französische Künstler Reisbauern durch ihren Alltag in Koyamaru begleitet und zeigt  in diesem Zweiteiler ihre harte Arbeit, die von den Jahreszeiten stark geprägt ist
Winter und Frühling, Sommer und Herbst

Dienstag, 7. August 2012, 20.15 Uhr

„Addictet to plastic“ von Ian Connacher

Unser Alltag wird beherrscht von Plastik. Überall wird er eingesetzt. Die Folgen für unserer Umwelt ist verheerend, somit auch für uns.

Während drei Jahren hat das Filmteam in zwölf Ländern auf fünf Erdteilen recherchiert und Material für diesen Film zusammengetragen. Er zeigt die Probleme, die aus dem Plastikmüll entstehen auf. In Interviews kommen aber auch Experten und Wissenschaftler zu Worte, die den Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft für die Erde und den Plastik aufzeigen.

In diesem Zusammenhang gibt es in Österreich auch eine Familie, die seit bald drei Jahren plastikfrei zu leben versucht. Interessante Berichte kann man auf ihrer Website nachlesen (www.keinheimfuerplastik.at)

Ab Samstag, 18. August 2012, jeweils um 20.15 Uhr

„Wir bleiben bestehen!“

5-teiliger Dokumentserie über die Geschichte Amerikas, erzählt aus der Perspektive der Ureinwohner, von der Ankunft der ersten Siedler auf der „Mayflower“ bis in die heutige Zeit

Skidoo

„Wenn ein Mann einen Liebesroman geschrieben hat, muss er hernach zum Ausgleich etwas Ordentliches tun. Einen Western schreiben zum Beispiel. Man ist sich das einfach schuldig, nicht wahr?“

Dieser Text von Alex Capus steht auf der Rückseite seines neuen Buches „Skidoo“ Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, das soeben im Hanser Verlag erschienen ist. Der Autor nimmt den Leser, wie es der Untertitel schon sagt, mit in den Wilden Westen der USA. Er weiss über Bewohner aus Städten namens Bodie, Salt Wells oder eben Skidoo manch spannende und schräge Geschichte zu erzählen. Wer den Autor schon live erlebt hat, weiss, dass man dabei bestens unterhalten wird und sich oft ein Schmunzeln nicht verkneifen kann.

Der Autor erinnert sich erst einmal, dass er immer in Kleinstädten hängen bleibt, ähnlich seiner Heimatstadt Olten. So verschlägt es ihn nach Bodie, wo es einen Totengräber gab, der im Winter Dynamit legte, um die Gruben für die Särge zu sprengen, weil der Boden so beinhart gefroren war. In Skidoo spürt er eine ganz schräge Geschichte auf, die von Joseph Simpson erzählt. Einem Säufer, der eine Bank überfallen haben soll und den Zweigstellenleiter erschoss. Nachdem er bereits gehängt worden war, stellte sich heraus, dass dieser eigentlich gar kein armer Mann war, sondern etliche tausend Dollar Vermögen, auf eben dieser Bank hatte.

Eine kuriose Geschichte wurde in den Zeitungen von Amerika bis nach Grossbritannien gedruckt: ein Erfinder legte sich sein entwickeltes Kühlsystem um, durchquerte das Death Valley und wurde danach erfroren (!) aufgefunden.

Auch in einer Ecke, die Hawiku heisst, verhinderten die Hopi-Indianer auf listige Weise, dass die Conquistadores wieder von dannen zogen und sie wenigstens noch zweihundert weitere Jahre in Ruhe leben konnten.

Amüsant  ist schliesslich die Tatsache, dass die berühmte Route 66 ein alter Kamelpfad war. Heute knattern, unter anderem, Motorräder über diese Strasse.

„Und jetzt fuhren sie Stunde um Stunde im Pulk auf dieser Autobahn, an deren Tankstellen das Benzin doppelt und dreimal so teuer ist wie anderso, weil nur hier die Touristen blöd genug sind, eine Fahrt durch die Wüste mit halbleerem Tank anzutreten, und ihre Hintern schmerzten und die Hände waren taub von den Vibrationen der technisch veralteten Harley-Motoren, und der Begleittruck des Reiseveranstalters führte ihnen ihre Rollkoffer hinterher, damit sie am Abend im Holiday Inn zum Abendessen ihre McGregor-Hemden und ihre gebügelten Jeans anziehen konnten…“

Diese Geschichte und noch andere gibt es in diesem Büchlein von fünfundsiebzig Seiten zu lesen. Alte Fotos und Zeitungsausschnitte, die ich gerne etwas grösser gehabt hätte, runden das ganze ab. Alex Capus vermittelt Geschichte und Wissenswertes, dass es ein Vergnügen ist. So würde selbst Schülern der Geschichtsunterricht wieder Spass machen.