Der Bub

Im letzten Literaturclub wurde das neue Buch „Nilpferde unter dem Haus“, des Schweizer Schriftstellers Hansjörg Schneider, besprochen. In diesem Zusammenhang wies Stefan Zweifel auf einen alten Roman, „Der Bub“, hin, der mich neugierig machte, dass ich ihn mir gleich antiquarisch besorgte. Ich hatte ja Zeit zu lesen, lag ich doch mit Fieber im Bett. Am Mittwoch habe ich das dünne gelbe Büchlein bestellt und am Freitag war es bereits in meinem Briefkasten!

Peter Fischwanz klinkt sich wieder einmal für eine Woche aus seiner Ehe aus und reist ins Tessin, wo er die abgelegene Hütte eines Freundes benützen darf. Er hat ein Heft mit dabei und beginnt darin mit seiner Lebensaufzeichnung. Von der Hütte aus blickt er auf den Lago Maggiore und nur ein Hügel verwehrt ihm den Blick auf Genna, einem Dorf, wo er einst als Bub eine glückliche Zeit mit seiner Mutter verbracht hat. In jenes Dorf hat es ihn auch auf die Hochzeitsreise verschlagen.

Peter hat seine Mutter früh verloren. An ihr ist er sehr gehangen, denn sie war immer gut zu ihm und verlor nie ein schlechtes Wort. Vor der Heirat war sie Lehrerin und hat sehr gut Klavier gespielt.

„Seine Mutter war gestorben als er 18 war. Aber ihr Sterben hatte früher angefangen. Seit Peter sich erinnern konnte, hatte sie sich auf den Tod vorbereitet. Wahrscheinlich hatte sie sich zum Sterben entschlossen, als sie das Klavierspielen aufgab.“

Sein Vater arbeitet in der Stadtkanzlei. Allerdings versteht Peter nicht, weshalb der Vater dieser Tätigkeit, die ihm einen schlechten Magen beschert, nachgeht.

Während den nächsten vier Tagen schreibt er über alles in dieses Heft, woran er sich erinnert. Peter ist noch vor dem 2. Weltkrieg geboren worden und wächst im Schweizer Mittelland, als Einzelkind, auf. In der Schule hat er nicht allzu viele Freunde, immer gerade einen, der ihn auf seine Weise prägt. Da ist Armando, ein Junge aus dem Tessin, mit dem er eine Weile verkehrt. Sein Freund wechselt die Mädchen regelmässig, wenn er ihnen überdrüssig wird. Im letzten Bezirksschuljahr ist da Röbi, der zu Hause Jazzplatten hört und schon viel zu viel raucht. Er wird aus der Lehre geschmissen, bevor er richtig angefangen hat. Jazz ist das Zauberwort und Chet Baker das grosse Vorbild. Peter hingegen soll nach der Matura studieren, dabei macht er sich gar nichts aus einem Studium. Viel berichtet er über die Verwandten, Onkel und Tante, die Dorfgemeinschaft und das Bauernleben und immer wieder über die Eltern.

Geblieben ist ihm auch die Erinnerung an seine Lehrer mit dem Rohrstock. Einer schlägt einen Kameraden, weil beim Schreiben zu viel Tinte aus der Feder tropft. Der Pfarrer, der Religionsunterricht erteilt hat verteilt Ohrfeigen, denn gewisse Fragen stellt man in jener Zeit nicht, auch wenn die Bibel einen darauf bringt. Als Erich auf einen Vers in Moses 1 hinweist, wird es dem Pfarrer zu bunt.

„Pfarrer Baumanns Gesicht wurde kreideweiss. Er ging auf Erich zu und gab ihm mit seiner weichen Hand eine Ohrfeige. Dann stellte er sich wieder hinter sein Pult. Jetzt überzog sich sein Gesicht mit einer seltsamen Röte. ‚Dazu seid ihr viel zu jung, ihr Saubande!'“

Schon während der Jugendzeit, in den Schulferien, macht sich Peter Richtung Basel auf, um auf einem Rheinschiff nach Amsterdam zu gelangen. Dann fährt er ganz allein nach Neapel und Sizilien.

Auch über seine Freundinnen und Liebschaften schreibt Peter Erinnerungen auf. Schon zur Primarschulzeit geht Regine mit ihm im Wald spazieren und ist äusserst Keck. Die Jugendfreundin Behtli, die ihn beleidigt stehen lässt, als er ihr sagt, dass sie geschielt habe, als sie, für jene Zeit, verbotene Dinge tun. Während dem Studium lernt er eine Frau kennen, die eigentlich verlobt ist. Wegen ihr verlässt er Paris, um sie in Basel wieder zu treffen. Doch die Freude ist kurz und er fährt wieder zurück. So begegnet er Alice, die aus dem Nachbarort stammt, und ihm in Paris zufällig über den Weg läuft und sie verliebt sich in ihn.

Er schreibt in sein Heft:

„Warum bin ich nicht in Paris geblieben? Ich hätte Kellner werden oder in den Hallen arbeiten können, ich hätte Alice nach unserem Abschied im Gare de l’Est nie mehr gesehen. Sie wäre meine erste wirkliche Liebe geblieben. In der Erinnerung wäre sie noch schöner geworden. Stattdessen fuhr ich nach Bolingen zurück und liess mich in diese idiotische Ehe hineinziehen.“

Zurück in der Schweiz zieht Alice, nach Peters Studium, ebenfalls nach Basel. Sie spricht indirekt von Heirat, das Peter überhaupt nicht ins Auge fasst. Schon schwanger, werden die Beiden doch noch Mann und Frau. In einer Zeitungsredaktion verdient er fortan seine Brötchen, fängt schon bald heimlich mit einer Studentin eine Beziehung an. Es kommt zu ersten Streitereien und unschönen Szenen. Und dann reist er ins Tessin, wo die Dinge erst recht seinen Lauf nehmen…

Hansjörg Schneider hat „Der Bub“ 1976 geschrieben. Der Roman ist im Lenos Verlag erschienen und mit seinen 127 Seiten schnell gelesen, aber es vermittelt ein eindringliches Bild der ländlichen Schweiz in den Jahren vor und nach dem 2. Weltkrieg. Den Krieg erlebt Peter als Kind in der Schweiz anders, als in den Nachbarländern. Je nach Region hat man nicht allzu viel von den Greueln in der Welt mitbekommen. Die Lehrer und der Pfarrer teilen Hiebe und Ohrfeigen aus, nicht nur um ihre Autorität zu zeigen, nein, beim Pfarrer ist förmlich zu spüren, dass ihm die berechtigten Fragen der Jugend unangenehm sind, vielleicht auch nicht richtig beantwortet werden können. Also wird die Unsicherheit in Form von Ohrfeigen und Zurechtweisungen übertüncht. Ehefrauen harren in Ehen aus, weil man sonst mittellos wäre und nichts anderes kennt, auch Peters Mutter kehrt mit dem Koffer schon am Gartentor wieder um.

In einfachen aber eindringlichen Worten nimmt der Leser teil, am bisherigen Leben Peters. Vielleicht hat er sich ein anderes Leben gewünscht, doch wie er sich gegenüber seiner Frau, in Worten, aber vor allem in seiner Gedankenwelt verhält, fand ich sehr egoistisch. Er bemitleidet sich selber am meisten. Es geht nur um seine Bedürfnisse. Sein Sohn Daniel scheint ihn nicht zu interessieren. Es ist das Kind von Alice, wie er in seinem Heft notiert. Peter ist ein Mann, der die Ehe nicht gewollt hat und sich deshalb daraus befreien möchte. Seine Frau Alice hat es einmal sehr treffend gesagt, dass er wie ein Paradiesvogel sei, den man nicht einsperren dürfe. Deshalb bricht er immer wieder auf und aus. Dieser Drang zur weiten Welt, machte sich schon in der Jugendzeit bemerkbar. Peter will nichts weiter, als frei sein und drückt sich vor der Verantwortung. Zu  sehr war er behütet bei seiner Mutter, „der Bub“.