Sima Vaisman wurde 1903 in Bessarabien, dem heutigen Moldawien geboren. Nach einem Medizinstudium (Gynäkologie) in Bukarest, wanderte sie anfangs der 1930er-Jahre nach Paris aus. Da sie nicht die nötigen Geldmittel zur Verfügung hatte, um nochmals Medizin zu studieren, arbeitete sie schliesslich als Zahnärztin. 1930 heiratete sie Pinkas Vaisman, der 1937, gerade dreiunddreissig jährig, starb. Anfangs des 2. Weltkrieges flüchtete sie nach Lyon. Im Dezember 1943 wurde sie in Maçon verhaftet und im Januar 1944 nach Auschwitz deportiert.
Das vorliegende Büchlein „In Auschwitz“ umfasst nur gerade 67 Seiten, was persönliche Protokoll von Sima Vaisman betrifft. Sie berichtet weniger über sich selbst als darüber, was sie während dieser Leidenszeit im Konzentrationslager gesehen und beobachtet hat. Es ist das absolut Fürchterlichste, was ich je gelesen habe und schon nach den ersten Seiten zog sich mir der Magen zusammen. Viele Deportierte schafften es gar nicht erst, dass sie Lagerkleidung, die nichts als Lumpen waren, zu erhalten.
„So entstellt, nicht wiederzuerkennen, kommen wir in ein Büro, wo man uns registriert, wo man uns nach unserem Beruf fragt, was wir studiert haben, ob wir krank sind, nach der Zahl unserer Goldzähne (für die spätere Entnahme nach dem Tod, dem natürlichen oder durch das Gas).“
Schon alleine, dieser Satz lässt mich erschauern. Es ist kaum vorstellbar, wie schrecklich es für die Lagerinsassen gewesen sein muss, wenn sie nackt und frierend und jeder Würde beraubt, vor den Gaskammern Schlange stehen mussten, um dem Tod entgegengehen zu müssen. Sima Vaisman arbeitete zuerst im Strassenbau, wurde dann bald auf die Krankenstation versetzt, wo sie sich um die Patienten zu kümmern hatte, mit nichts als ihren blossen Händen. Denn das Wenige, das man den Ärzten zur Behandlung der Kranken zur Verfügung stellte, war absolut lächerlich und entbehrt jeder Beschreibung.
Nur zu gerne hätte die Ärztin den Kranken geholfen, die mit flehenden Blicken nach Schmerzmitteln oder Nahrung verlangten. Es musste ständig improvisiert werden und mehr als zehn Tage durfte sich niemand um die Kranken kümmern. Danach hatten sie gesund zu sein oder wurden selektiert.
Als die Lagerleitung vernahm, dass die Russen im Anmarsch waren, wurde die Vernichtung der Gefangenen noch vorangetrieben. Tag und Nacht wurden die Gefangenen vergast. Als man mit der Vernichtung nicht mehr nachkam, wurden die Menschen lebend in Gruben geworfen und umgebracht. Wenn erneut ein Güterzug ankam und die Deportierten mit ihrem wenigen Hab und Gut an Sima vorbeischritten, überlegte sie sich, ob sie diese Unglückseligen nicht warnen und ihnen sagen sollte, was ihnen bevor stand. Doch sie entschied sich dagegen. Sie wollte sie nicht noch mehr ängstigen.
„Aber kann man etwas so Ungeheuerliches, so Unmenschliches glauben … Wenn sie es wissen, werden sie es noch immer nicht glauben … Und wir, die wir im Zentrum dieser Hölle leben, wir wissen, wir sehen, aber begreifen wir wirklich, was wir sehen?“
Das Wenige, das die Menschen noch bei sich hatten, wurde ihnen weggenommen, all diese Dinge brauchten sie bald nicht mehr. Lagerinsassen sortierten Berge von Schuhen, Kleidern, Spielzeug etc., die eilends für den Transport nach Deutschland verpackt werden mussten.
„Wir wissen, dass Weihnachten naht, dass man den deutschen Kindern Geschenke machen muss. Und die Kleider und Spielsachen von Hunderten lebendig verbrannten Kinder werden die Augen der Kinder der SS vor Freude zum Leuchten bringen …“
Es ist für mich unglaublich, dass es tatsächlich Menschen gab, die diesen Irrsinn überhaupt überlebt haben. Von welcher Kraft, von welchem Überlebenswillen wurden sie gelenkt und getrieben? Sima Vaisman hat überlebt. Als das Konzentrationslager eilig aufgehoben wurde, hatten sie, bei Temperaturen von minus 20 Grad und mehr, noch einen langen Fussmarsch vor sich. Auch hier starben noch viele Menschen, die am Ende ihrer Kräfte, einfach liegen blieben. Andere wurden erschossen, teilweise noch, weil sie von der Bevölkerung, die sie auf dem Marsch um Hilfe anflehten, bei den Bewachern denunziert wurden.
Durch die Russen befreit, hat Sima Vaisman acht Tage nach ihrer Rückkehr dieses Protokoll verfasst, um die Welt an diese Gräueltaten zu erinnern. Auch wenn das Büchlein, das in schlichten grauen Karton gekleidet ist, was mehr als passend ist, nicht einfach mal so weggelesen werden kann, bin ich froh, dass es der Lilienfeld Verlag, in deutscher Übersetzung, herausgebracht hat. Wenn man immer mal wieder im Fernsehen und in Büchern von Auschwitz etwas sieht und liest und glaubt, bereits alles zu kennen, muss ich dies verneinen, nachdem ich dieses Zeitdokument gelesen habe. Jeder der diese Hölle überlebt hat, hat seine eigene Geschichte und keine gleicht der anderen. Serge Klarsfeld (französischer Rechtsanwalt und Historiker), der diese aussergewöhnliche Frau gekannt hat, bringt es in seinem Nachwort auf den Punkt:
„Kein Reporter der Welt hätte wie Sima Vaisman auf achtzig Seiten, mit hunderttausend Zeichen schildern können, welche Hölle die Juden auf Erden erlitten. Kein Reporter, kein Schriftsteller, kein Historiker – nur ein Zeuge und einer der ersten Stunde …“
Sima Vaisman ist nach Paris zurückgekehrt und hat wieder als Zahnärztin praktiziert. Über ihre Zeit in Auschwitz hat sie nie Fragen beantwortet. Ihr Name Vaisman erinnert mich unweigerlich an das Wort „Weise“. Das muss sie auch tatsächlich gewesen sein, wie Eliane Nejman-Scali – ihr Vater war ein Cousin von Sima Vaisman – zu berichten weiss. Sie bekam das schmale Manuskript 1983 erstmals zu sehen, wobei Sima Vaisman ihren Bericht als „belanglos“ abgetan habe. Diese ungewöhnliche und lebensstarke Frau wurde 94 Jahre alt und ihr Text ist alles andere als belanglos und sollte gelesen werden. Ihre Worte gehen unter die Haut und entlassen einen nicht so schnell in den Alltag.
Sima Vaisman: „In Auschwitz“
Lilienfeld Verlag
96 Seiten
ISBN 978-3-940357-08-3