Die Treppen auf dem Cover führen ins Nichts. Für mich sinnbildlich für den Krieg, der viele Familien mit Nichts und im Nichts zurücklässt. Der blaue Himmel ist Symbol der Hoffnung auf bessere Zeiten.
Die namenlose Ich-Erzählerin schildert die Zeit ihrer Kindheit und Jugend ab 1991, als wir in Westeuropa mit den ersten Bildern des Balkan-Krieges durch die Medien konfrontiert wurden. Das Mädchen und ihr sechzehn Jahre alter Bruder packen in jenem Sommer die Koffer für eine Reise ans Meer. Zwei Wochen dürfen sie dort Urlaub in einem Erholungsheim verbringen. Der Vater ordnet an, dass auch die Reisepässe eingepackt werden. Die Kinder fragen sich zu Recht, was das soll, denn sie fahren doch nur ans Meer. Ihr Vater sorgt vor, denn es könnte sein, dass danach die Reise zu einem Onkel nach Deutschland fortgesetzt werden muss.
Ein Monat vergeht, die Kinder sind immer noch am Meer und beginnen sich zu langweilen. Da trifft ihre Mutter ein. Der Vater ist in Vukovar geblieben. Er will die Stadt nicht verlassen, harrt weiter dort aus, denn er will nicht als Verräter hingestellt werden. Die dreiköpfige Familie bricht nach Zagreb auf, wo sie Unterschlupf bei der Familie eines Onkels findet und die Kinder gehen fortan dort in die Schule.
„An einem Nachmittag, meine Cousine und ich waren gerade auf dem Weg nach Hause und liefen auf einer Kiesstrasse, hörten wir plötzlich das Heulen der Sirene, es war ein Luftalarm. Ich fing an zu schreien und zu weinen. Wir bekamen Panik und rannten in das nächstbeste Nachbarhaus. Es ist damals nichts weiter passiert, doch es hatte eine neue Zeitrechnung begonnen.“
Bald teilt man die Lebensmittel nicht mehr gern mit der Verwandtschaft. Es wird eng in der Wohnung. Auf der Strasse und in der Strassenbahn fallen erste gehässige Bemerkungen, dass es mehr Platz gehabt habe, bevor diese Flüchtlinge kamen. Die Erzählerin sieht sich als Vertriebene und nicht als Flüchtling. Flüchtlinge sind die aus Bosnien. Abends sitzen die Erwachsenen um den Küchentisch und es ist nur noch die Rede vom Krieg, von Hinrichtungen, von Vermissten. Das Mädchen bekommt trotz der Tuschelei einiges mit. Die Familie macht sich Sorgen um den Vater. Am Anfang meldet er sich noch alle drei Tage, dann reisst der Kontakt plötzlich ab, seine Spur verliert sich. Man erfährt, dass die Grosseltern umgebracht wurden, der Grossvater wurde enthauptet. Die Eltern des Vaters treffen in Zagreb ein. Plötzlich steht auch die totgeglaubte Grossmutter vor der Tür. Sie ist aus einem Lager, über einen Umweg durch Ungarn, geflüchtet. Irgendwann schlägt der Onkel vor, dass sie besser umzögen, in eine ungenützte Wohnung in einer anderen Siedlung. Das Schloss könnte man ganz leicht aufbrechen. Davor wohnte eine Serbin dort, die überstürzt abgereist ist und alles stehen und liegen lassen hat.
Auch dieses Domizil ist nur vorübergehend. Die Familie könnte in eine Wohnung auf eine der Insel ziehen. Sie wollen aber lieber in der Nähe von Zagreb bleiben, damit man sie leichter findet, wenn der Vater sie sucht. Schliesslich erhalten sie ein Zimmer in der ehemaligen Politik-Kaderschule in Zagorje. In den oberen Stockwerken wohnen Menschen, die gut Treppen steigen können. Man trifft sich fortan im Speisesaal, auf dem Korridor oder in den Zimmern. Auch eine Kirche wird in einem Raum eingerichtet. Vielen Bewohnern werden Spitznamen gegeben, die nicht eben schmeichelhaft sind, wie Dickwanst, Gelbgesicht, Haarknoten-Oma. Die Jugendlichen gehen nicht zimperlich miteinander um.
Trotz der Sorgen und der Ungewissheit um ihren Mann hält die Mutter die Familie mit ihrer Arbeit in der Fabrik eines Onkels zusammen und über Wasser. Das Mädchen hat Glück und wird mit anderen Kindern ausgewählt, zwei Wochen bei einer Gastfamilie in Italien zu verbringen. Im Autobus werden sie in die Nähe von Mantua gebracht, wo die Gasteltern warten. Während dem Aufenthalt wird es verwöhnt und in der Familie herumgezeigt. Obwohl sie kein Italienisch versteht hört sie immer wieder die Worte „bambina jugoslava“, die sie hastig mit „Croatia“ korrigiert. Einmal bei einem Geburtstagsfest macht man sie bekannt mit einem serbischen Mädchen. Die Annäherung scheitert, als diese meint, dass sie sich auf Jugoslawisch unterhalten könnten. Die Ich-Erzählerin stellt schnell klar, dass sie Kroatisch spreche und dass dies nicht dasselbe sei wie Jugoslawisch.
Die Pubertät macht auch im Krieg nicht halt, erste Verliebtheit stellt sich ein, die ersten Erfahrungen mit Zigaretten und Alkohol gemacht. Mit dem Bruder gibt es immer öfter Streit, denn dieser wird immer aggressiver, beleidigt die Mutter. Er will und kann sich nicht mit ihrer Situation abfinden. Er hat es satt, auf so engem Raum zu leben. Während andere Familien eine Wohnung zugewiesen erhalten, leben sie immer noch im „Hotel Zagorje“. So verfasst er einen Brief an Franjo Tudjman, den Präsidenten höchstpersönlich. Es ist ein verzweifelter Hilferuf eines inzwischen jungen Mannes, der unter die Haut geht und nachdenklich stimmt. Er, der die gleichen Rechte einfordert, wie sie für andere selbstverständlich zu sein scheinen. Weitere Briefe folgen an andere Stellen und die Ämter antworten, dass einem die Galle hochkommt.
Jahre voller Hoffnungen, kleinen Freuden, aber vor allem auch von Entbehrungen, die die Protagonistin mit ihrer Familie im „Hotel Zagorje“ durchlebt, bevor sie das Gymnasium und der Bruder die Universität in Zagreb besuchen werden. Aber was auch immer passiert, die Mutter ist für sie da, auf sie ist Verlass, auch wenn es turbulent wird. Sie ist das fest verankerte Schiff im tosenden Meer einer Jugendzeit, die zu durchlaufen während des Krieges noch schwieriger als sonst ist.
„Es gibt zwei Sätze, zwei Zaubersätze, die so bekannt klingen, weil du sie im Stillen immerzu wiederholst. Und doch weisst du nicht, wie sie eigentlich laut ausgesprochen klingen, denn du hast sie bisher nie gehört und auch nie selbst laut gesagt:
Der erste Satz lautet: Papa ist am Leben.
Der zweite: Wir haben eine Wohnung bekommen.“
Ivana Bodrozic, geboren in Vukovar, ist selber erst neun Jahre alt, als der Krieg beginnt. Sie lebte mit ihrer Familie im Hotel Zagorje, so auch der Titel des Originals. Es ist eine fiktive Geschichte und nicht die ihrer Familie, wie sie betont. Mit diesem Roman will sie all jenen Menschen eine Stimme wider das Vergessen geben, die damals in diesem „Hotel“ gelebt haben. Nichts ist normal, man lebt auf engem Raum mit- und nebeneinander, man muss sich arrangieren und irgendwie zurechtkommen. Dass aus diesen jungen Menschen rechtschaffene Erwachsene werden, das verdankt man hauptsächlich den Müttern (die Väter waren ja oft in der Armee oder tot), die ihre Kinder in dieser schwierigen Situation nicht sich selbst überlassen, sondern sich um sie gekümmert haben.
2008 waren wir mit dem Auto in Kroatien unterwegs. Hinter der dalmatinischen Küste liegt noch ein anderes Kroatien. Wir sind nicht bis in die östliche Ecke gekommen, sondern im Landesinnern hinter der Küste herumgekurvt. Viele Häuser zeigten noch Spuren des Krieges, unfertige Neubauten, Einschusslöcher – selbst in Kirchen -, verlassene Weiler, Warnschilder wegen Landminen auf Feldern wie auch im Gebirge. Landwirtschaft konnte nur mit Vorsicht betrieben werden, wegen der tausenden von Landminen. Man vermutet, dass immer noch 90’000 (!) Landminen in der Erde lagern (siehe Karte unten). Wer sich mit Kroatien befassen möchte, dem kann ich dieses Buch nur ans Herz legen. Vieles habe ich damals in den 1990er-Jahren nicht verstanden, aber verstanden habe ich wie schwierig es sein muss, während eines Krieges erwachsen zu werden. Einmal mehr bin ich zur Überzeugung gelangt, dass der Krieg das sinnloseste ist, was die Menschheit je hervorgebracht hat.