Das Missverständnis

Das Missverständnis

Yves stammt aus einer reichen Pariser Familie und ist um die dreissig. Er hat als Soldat im ersten Weltkrieg gedient und wurde verletzt. Die physische Verletzung hat er überlebt, doch psychisch haben ihn die Jahre verändert. Das Vermögen, das ihm seine Eltern hinterlassen haben und das ihn angenehm leben und reisen liess, hat sich nach dem Krieg praktisch in Luft aufgelöst. Er ist genötigt, sich eine Arbeit zu suchen und nun verbringt er seine Tage am Schreibtisch einer Presseagentur. Um einige Wochen Sommerurlaub am Meer, nahe der spanischen Grenze, verbringen zu können, spart er sich das Geld vom Munde ab. Einst hatte er hier mit seinen Eltern glückliche Tage seiner Kindheit verbracht.

„Er hob den Blick und betrachtete sich im Spiegel. Seine Seele glich an diesem Morgen so sehr seiner Kinderseele an jenen strahlenden Ferienmorgen, dass das Siegelbild ihm eine schmerzlich Überraschung bereitete: Er sah das Gesicht eines Mannes um die dreissig, müde, blass, mit unreinem Teint und einem kleinen bitteren Zug um den Mund; das Blau der Augen schien verblichen zu sein, und die Lider waren schwer und hatten ihre Langen, seidenweichen Wimpern verloren …“

Yves trifft im Hotel zufällig auf einen Mann, der im selben Lazarett behandelt wurde. Dieser verbringt hier seinen Urlaub mit der jungen Ehefrau und seiner kleinen Tochter, bevor er geschäftlichen Verpflichtungen in London nachgehen muss und seine Familie allein im Hotel zurücklässt. Yves lernt Denise bei gemeinsamen Spaziergängen näher kennen und verliebt sich in die schöne und verwöhnte Dame aus reichem Haus. Sie beginnen sich heimlich zu treffen und zu lieben.

Als der Sommer endet, muss Yves nach Paris zurückkehren. Die sonnigen und unbeschwerten Urlaubstage machen wieder dem grauen Arbeitsalltag im Büro Platz. Denise eilt weiterhin zu ihrem Geliebten, die Stunden zählend, bis zu ihren Treffen. Die Tage werden ihr lang und sie hat viel Zeit um über ihren Gedanken zu  brüten und auf ein Zeichen ihres Geliebten zu warten.

„Und warum hatte er nicht gewollt, dass sie zu ihm kam? Ihre Phantasie vergrösserte, verzerrte die kleinsten Einzelheiten ins Monströse … Wer weiss? Vielleicht betrog er sie doch? Konnte man das wissen? Er hatte vielleicht noch eine andere Geliebte. Vielleicht war er ihrer längst überdrüssig geworden und zu einer früheren Geliebten zurück-gekehrt …“

Yves ist nicht mehr derselbe Liebhaber wie am Meer. Der Arbeitsalltag frisst ihn auf. Die Kriegsjahre haben ebenfalls seine Spuren hinterlassen und lassen sich nicht mehr einfach wegwischen. Die Sommerfrische ist längst wieder aus seinem Körper gewichen.

[…] Andere – die Leidenschaftlichen – trugen ihre Revolte, ihr Fieber, ihr qualvolles Begehren unter die Menschen. Wieder andere – zum Beispiel Yves – waren nach ihrer Rückkehr einfach nur müde. Sie hatten zunächst geglaubt, dass die Müdigkeit ein vorübergehender Zustand wäre und die Erinnerung an jene dunklen Stunden sich in dem Mass abschwächte, in dem das Leben wieder ruhig, normal und friedlich verliefe, dass sie eines Tages aufwachen würden und kräftig, fröhlich und jung wären wie zuvor. Doch die Zeit verging, und „es“ blieb und frass an ihnen wie ein langsam wirkendes Gift. […]

Während Yves vor allem Ruhe und Geborgenheit in den Armen seiner Geliebten sucht, giert sie nach den berühmten drei Worten, ob sie nun echt oder gelogen sind, und will bewundert und begehrt werden. Es folgen Streitigkeiten und Eifersuchtsszenen. Als Denise ihr Leid ihrer Mutter klagt, hält diese ihrer Tochter den Spiegel vor. Doch auch die Standpauke der Mama hilft nicht allzu viel – im Gegenteil. Sie kommt auf eine ganz dumme Idee.

Bei Einladungen in der noblen Gesellschaft, in der sich die junge Frau bewegt, ist Yves geduldet, doch finanziell kann er nicht mithalten, was ihm beinahe das Genick bricht, wäre da nicht ein alter Freund, auf den er hofft. Die Differenzen zwischen dem Liebespaar werden immer grösser. Der Giftstachel steckt in der Liebesbeziehung und sie scheint nur noch ein einziges Missverständnis zu sein.

Irène Némirovsky schrieb ihren ersten Roman „Das Missverständnis“ bereits als 23-jährige Frau, der nun endlich in deutscher Sprache vorliegt. Schon hier zeigt sich, welch gute Beobachterin die Autorin war, wenn es darum ging, die grossbürgerliche Gesellschaft in all ihren Facetten zu beschreiben. Sie war zudem eine Meisterin, wenn es darum ging, einem Gefühlszustände mit ihren Worten fast bildlich vor Augen zu bringen. Kein Wunder, dass die Autorin zwischen den beiden Weltkriegen zum Star der französischen Literatur avancierte, bevor sie 1942 deportiert und in Auschwitz starb. Es bleibt mir weiterhin eine Freude, all die Romane, die sie bis zu ihrem Tode zu Papier brachte, zu lesen und ich hoffe sehr, dass es noch einige zu entdecken gibt.

Irène Némirovsky: „Das Missverständnis“
Knaus Verlag
Erscheinungsjahr 2013
171 Seiten
ISBN 978-3-8135-0467-5