Friedrich Glauser und der Wahnsinn

Das grösste Krimifestival Europas, die „Criminale“ wurde, im Anlass zu Friedrich Glausers Todestag, der sich im Dezember 2013 zum 75. Mal jährt, in der Schweiz durchgeführt. In Bern und der ganzen Region, inklusive Solothurn, fanden vom 17. – 21. April 2013 zahlreiche Veranstaltungen statt, seien das Lesungen, Theateraufführungen, Filme, Tage der offenen Tür bei der Polizei und literarische Rundgänge. Ich habe mich für eine Führung im Psychiatriezentrum Münsingen entschieden, in der der Wegbereiter des deutschsprachigen Kriminalromans, Friedrich Glauser, insgesamt sechs Jahre seines Lebens verbracht hat.

Friedrich Glauser wurde am 4. Februar 1896 in Wien, als Sohn einer österreichischen Mutter und eines Schweizer Vaters, geboren. Seine Mutter starb, als Glauser erst vier Jahre alt war. Das war ein erstes Trauma in seinem jungen Leben, denn er hing sehr an seiner Mutter. Nach drei Jahren am Gymnasium flog er vom Gymnasium, flüchtete nach Ungarn, woraufhin sein Vater ihn in ein Erziehungsheim in der Schweiz, am Bodensee steckte. Auch in Genf wurde er nach weiteren drei Jahren am Lycée hinausgeschmissen und erlangte die Matura auf dem zweiten Bildungsweg schliesslich in Zürich. Glauser begann sich in der Szene der Dadaisten zu bewegen, wo er auch erstmals mit Morphin in Berührung kam. Es war eine Demütigung für den jungen Mann, als sein Vater ihn wegen „liederlichem Lebenswandel und Drogen“ entmündigen liess. Am 21. Februar 1918 fand sich folgender amtlicher Eintrag im Tagblatt der Stadt Zürich:

„Der Bezirksrat Zürich hat mit Beschluss vom 7. Februar 1918 Friedrich Charles Glauser, geb. 1896, von Muri, Kt. Bern, stud. Chem. wohnhaft gewesen in Zürich, z.Zt. unbekannt so sich aufhaltend, im Sinne von Art. 370 ZGB entmündigt.
Als Vormund wurde ernannt: Dr. Walter Schiller, Amtsvormund, Bahnhofstrasse 57c, Zürich 1
Waisenamt der Stadt Zürich: Der Sekretär: Zwingli“

Glauser wurde fortan immer wieder in psychiatrische Anstalten interniert. Erstaunlich, dass sein Vater ihm half, als er in die Fremdenlegion wollte. Zwei Jahre war Glauser in Marokko, wo er schliesslich, wegen einem Herzfehler, entlassen wurde. Über Frankreich und Belgien, wo er als Tellerwäscher und Handlanger in einem Kohlebergwerk gearbeitet hatte, wurde er schliesslich in die Schweiz zurückgeschafft. Die Sucht zwang ihn immer wieder in die Beschaffungskriminalität. Bereits 1918 kam er erstmals nach Münsingen, damals noch „Heil- und Pflegeanstalt“. In seiner Krankenakte war Schizophrenie als Grund vermerkt, die aber nie bestätigt werden konnte.

Unter dem Motto „Wo Matto regierte – Mit Friedrich Glauser durch die Anlage“ standen wir Interessierte vor dem Pflegezentrum Münsingen (PZM) und wollten mehr über den Aufenthalt des Autors hier erfahren. Mike Suter, Leiter Kommunikation und Information des PZM, führte uns durch diverse Räumlichkeiten des Zentrums und erzählte überaus spannend über Glausers Internierung und das Zentrum selbst, wie es damals war und heute geführt wird.

Hauptgebäude PZM Münsingen (erbaut 1895)

Im Roman „Matto regiert“ wird Wachtmeister Studer in die Irrenanstalt Randlingen gerufen, ein Insasse ist abgehauen, der Direktor spurlos verschwunden. Glauser behauptete, dass die Anstalt Randlingen und die Personen rein fiktiver Natur seien. Der Rundgang und die alten Fotos sollten belegen, dass das Psychiatriezentrum Münsingen gemeint ist. Das Buch, das 1936 erschien hat eine „Notwendige Vorrede“, worin Glauser schreibt:

„Es gibt drei Anstalten im Kanton Bern. – Waldau, Münsingen, Bellelay. – Meine Anstalt Randlingen ist weder Münsingen, noch die Waldau, noch Bellelay. Die Personen, die auftreten, sind frei erfunden. Mein Roman ist kein Schlüsselroman.

Eine Geschichte muss irgendwo spielen. Die meine spielt im Kanton Bern, in einer Irrenanstalt. Was weiter? … Man wird wohl noch Geschichten erzählen dürfen?“

Als wäre es abgemacht, ertönte im Hintergrund eine Sirene – passend zur „Criminale“. Wenn man sich nun in den Text vertieft, stellt man bald fest, dass es sich eben doch um Münsingen handeln muss: die Gebäude, die Räume, das Areal, selbst der Arzt sind klar wiederzuerkennen. Die Anlage wurde 1895 aus rotem Back- und Sandstein gebaut. Da die Anstalt Waldau längst überfüllt war, war auch Münsingen, das für 500 Patienten konzipiert war, gleich nach seiner Eröffnung, voll belegt. Zu Beginn waren für die Insassen gerade mal sieben Wärter und sechs Wärterinnen verantwortlich, die zuvor als Knechte und Mägde gearbeitet hatten. Sie hatten vor allem für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Zu Friedrich Glausers Zeit waren in der Anstalt etwa 800 Patienten untergebracht, damals strickt nach Männern und Frauen getrennt.

die roten Gebäude sind die historischen
auf der linken Seite waren die Frauen, auf der rechten Seite die Männer untergebracht

Heute verfügt das Zentrum noch über dreihundert Betten und sechshundertfünfzig Angestellte arbeiten dort. Waren die Patienten früher in Sälen à zwanzig Betten untergebracht, gibt es heute nur noch Zweibett-Zimmer und die Trennung zwischen Männer- und Frauenbereich auf dem Gelände, ist längst passé.

Friedrich Glauser

Friedrich Glauser

Krankensaal

Krankensaal

Anfangs des 20. Jahrhunderts steckte die Psychiatrie noch in ihren Kinderschuhen und war ein riesiges Versuchsfeld. Bei vielen Patienten wusste man nicht, wie man sie ruhigstellen konnte. Der junge Assistenzarzt Max Müller, der im Roman dem fiktiven Dr. Laduner ähnlich ist, war bereit, neue Behandlungsmethoden an den Patienten auszuprobieren. Die Schlaf- und Elektroschocktherapie waren noch die harmlosesten. Es gab auch eine Insulintherapie. Typhus war damals noch allgegenwärtig. Patienten wurden bewusst mit Typhus infiziert, weil man festgestellt hatte, dass sie während der Krankheit ruhiger wurden und danach sogar als geheilt entlassen werden konnten. Allerdings starben gut 5% der Patienten, bei denen diese riskanten Therapie angewannt wurde. Ihren Tod nahm man in Kauf. Oft gingen Wärter mit einem Toten auf der Bahre über den Hof zum Totenhäuschen. Diese Beobachtungen konnte auch Glauser machen.

das ehemalige Totenhäuschen

das ehemalige Totenhäuschen

Glauser hatte mit einem der leitenden Ärzte, Dr. Max Müller, dem späteren Direktor der psychiatrischen Klinik, geradezu ein freundschaftliches Verhältnis, das zwischen Arzt und Patient absolut unüblich war. Er ging fast täglich in der Arztwohnung ein und aus, kannte die Ehefrau und den Sohn. Die Angestellten lebten mit ihren Familien innerhalb der Anstalt. Glauser, war bei den Wärtern, wie die Pfleger damals noch genannt wurden, äusserst unbeliebt, eben so wenig mochten ihn die Patienten. Dies ist irgendwie verständlich, denn häufig tippte er für den Arzt die Krankenberichte auf der Schreibmaschine.

Prof Max Müller (1894 -1980), gemalt von Fred Stauffer, Bern

Prof Max Müller (1894 -1980), gemalt von Fred Stauffer, Bern

Aus dem Film "Matto regiert" (1946) mit Heinrich Gretler als Wachtmeister Studer und Heinz Woester als Dr. Laduner

Aus dem Film „Matto regiert“ (1946) mit Heinrich Gretler als Wachtmeister Studer und Heinz Woester als Dr. Laduner

Er wusste dadurch über die Patienten und Angestellten bestens Bescheid. Glauser, ging, wenn es ihm gutging, auch ins Dorf, trank seinen Wein, kehrte dann wieder in die Anstalt zurück und schrieb seine Beobachtungen über die Alkoholiker nieder. Er war ein genauer Beobachter, deshalb ist sein Roman „Matto regiert“ eine äusserst präzise Studie des Lebens und Tagesablaufs in einer Irrenanstalt der 1920er- und 1930er-Jahre. Glauser trug die Idee zu diesem Roman jahrelang mit sich rum und schrieb ihn, in der Waldau, Bern, innerhalb von nur vier Monaten. Er wurde 1934 von Münsingen dorthin verlegt, als er begann Rezepte mit dem Namen seines behandelnden Arztes zu fälschen. Auch in Münsingen konnte er sich immer wieder Morphin beschaffen. Wir staunten nicht schlecht, als wir bei der Führung erfuhren, dass Glauser einige Zeit den Apothekerschrank verwaltete. Da war es für ihn ein Leichtes, an den Stoff zu kommen.

Die Korrespondenz der Patienten verliess in der Regel die Anstalt nicht, bevor der Arzt sie eingesehen hatte. Das Manuskript von „Matto regiert“ (Matto ital. = Verrückt) hingegen passierte die Anstalt, ohne dass die Ärzte sich gross darum kümmerten. Zuerst wurde er als Fortsetzungsroman in der Wochenzeitung „Der öffentliche Dienst“ publiziert. Erst als der Roman in Buchform mit einem aufsehenerregenden Cover erschien, erlangte er Aufmerksamkeit, nicht zuletzt wurde dem Regierungsrat vom Kanton Bern, durch einen Einflüsterer, zugetragen, dass ein „Irrenstalt Roman“ veröffentlicht worden war. Die Ärzte der Waldau mussten daraufhin eine Stellungnahme abgeben, weshalb das Material die Anstalt unzensiert verlassen konnte. Allerdings wurde so ausschweifend über Glausers Krankenakte berichtet und das Wesentliche nur noch am Rande erwähnt. Zu dieser Zeit war Glauser bereits nicht mehr Patient in der Waldau. Der Aufruhr legte sich nach einem Monat von selbst.

Während seiner Internierung in Münsingen, lernte er 1932 die Pflegerin Berthe Bendel kennen. Mit ihr emigrierte er 1936 nach Frankreich und lebte mit ihr in der Nähe von Chartres. Während dem Aufenthalt in Basel wollte Glauser Berthe heiraten, doch da seine Braut in Deutschland geboren war, war eine Eheerlaubnis aus Berlin notwendig, so dass die Heirat verschoben wurde. Ende Mai 1938 reisten sie nach Nervi bei Genua, wo Friedrich Glauser, einen Tag vor der Hochzeit, im Alter von 42 Jahren, am 8. Dezember 1938, an einer Hirnblutung starb.

Glausers Krankenakte befindet sich heute im Schweizerischen Literaturarchiv, in Bern. Einst nahm ein Assistenzarzt die Unterlagen mit zu sich nach Hause und wurde nicht mehr ins Psychiatriezentrum zurückgegeben. Das Literaturarchiv wünschte, dass die Akte im Glauser-Archiv aufbewahrt wird. Im PZM befindet sich nur noch ein Faksimile.

Auszug aus der Krankenakte Glauser

Auszug aus der Krankenakte Glauser

Während der „Criminale“ wurde im Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) zusätzlich der Dokumentarfilm „Glauser“ gezeigt, der 2011, unter der Regie von Christoph Kühn, entstanden ist.

Darin kommen unter anderem Berthe Bendel, Prof. Max Müllers Sohn Christoph oder der Literaturkritiker Hardy Ruoss zu Wort. Die ehemalige Lebensgefährtin fand nur gute Worte für Glauser, der trotz seiner Schwierigkeiten in seinem Leben, den Menschen wohlgesinnt gewesen sei. Und von anderer Seite erfuhr man, dass Glauser während seinem unsteten Leben sicher an die hundert verschiedene Zimmer gehabt habe.

Originalcover von 1936
unten sieht man Männer einen Karren ziehen, den sogenannten Blitzzug
Als Arbeitstherapie zogen die Insassen Steine auf dem Karren von einer Ecke des Geländes in die andere. Somit wurde erreicht, dass sie recht müde wurden und sich nachts ruhig verhielten.

In einem weiteren Raum waren die Originalbilder des Comiczeichners  Hannes Binder ausgestellt, der zu Glausers Romanen und Texten zahlreiche Bücher illustriert hat. Die Schabkarton-Zeichnungen wurden in den Dokumentarfilm integriert. Das Berner Sommertheater zeigt ausserdem noch bis zum 4. Mai 2013 im Casino des PZM das Theaterstück „Fieberkurve“, eine Kriminal-Komödie nach Friedrich Glauser. Das Casino ist der heutige Mehrzweckraum des Zentrums (früher Versammlungshaus). Das sogenannte „Männerkasino“ war die einzige Abwechslung für die männlichen Angestellten nach Feierabend. Im Untergeschoss des Gebäudes, wo sich heute die Kapelle befindet,  trafen sie sich zu einem Bier oder zum Kartenspielen.

im Casino

Mehrzweckraum im Casino

Das Zentrum ist für die Bevölkerung offen zugänglich. Es gibt Veranstaltungen, einen Park mit altem Baumbestand, eine Dampfbahn, ja selbst eine Minigolfanlage ist vorhanden und im Restaurant kann sich der Besucher mit feinem Gebäck verwöhnen lassen. Während diesen Tagen gab es sogar ein „Glauser-Menu“.

Nach dem Rundgang begaben wir uns noch auf einen Spaziergang durch die Anlage und kamen auch an den alten Holzzäunen vorbei, die die Anstalt einst von der Aussenwelt abschlossen.

PZM Münsingen_4

Patienten gehen auch ins nahegelegene Dorf zum Einkaufen. Ein älterer Herr liess bei der Fragerunde die Bemerkung fallen, dass man oft sehe, dass Patienten zugedrönt wirkten, wenn man ihnen begegne.

Die Menschen seien nun einmal krank, es gehe ihnen nicht gut, sonst wären sie nicht im PZM in Behandlung. Da könne es schon einmal vorkommen, dass einer einen abwesenden Blick habe, erwiderte Mike Suter und fragte anschliessend, ob er denn wolle, dass man die Leute wieder wie früher einsperre? Die Zuhörer applaudierten dem Redner beipflichtend. Vieles hat sich seit Glausers Aufenthalt verändert: die Irrenanstalt wurde zum Psychiatrischen Zentrum, die Wärter machten Pflegern Platz. Die „Verrückten“ wurden zu Patienten, um die man sich kümmert. 1/3 von ihnen kann als geheilt entlassen werden und wer weiss, vielleicht wäre Friedrich Glauser einer von ihnen gewesen, hätte er nach heutigen Kriterien behandelt werden können und er hätte ein glückliches Leben mit seiner Berthe führen können.

Friedrich Glauser hat sechs Kriminalromane und einen Fremdenlegions-Roman (Gourrama) hinterlassen, dazu über 150 Erzählungen und Novellen und biographische Aufzeichnungen, weitaus mehr als 500 Briefe und, was viele vielleicht nicht wissen, auch Gedichte, die zu seinen Lebzeiten nie veröffentlicht wurden.

Ausgewählte Texte von Friedrich Glauser:

Man kann sehr schön mit dir schweigen (Briefe 1919 – 1932) (Nimbus Verlag)
Pfützen schreien so laut ihr Licht (Gedichte) Nimbus Verlag

Website Dokumentarfilm „Glauser“ Das bewegte Leben des grossen Schriftstellers

Marie-Louise Käsermann: „Wo überall „Matto regiert“ Zum Aufruhr beim Erscheinen des gleichnamigen Romans von Friedrich Glauser (ISBN 978-9523998-0-4)

Hannes Binder Bücher zu Glauser im Limmatverlag