Der letzte Bruder

Nachdem ich literarisch vor kurzem auf einer Zuckerrohrplantage in Jamaica war, führt mich mein Weg nun auf die Insel Mauritius. Vielen ist das Eiland als Flitterwochenparadies bekannt, doch Mauritius hat eine bewegende Vergangenheit hinter sich. Dazu müssen wir aber das Zeitrad um beinahe siebzig Jahre zurückdrehen:

„Es heisst, man träume kurz vor dem Tod sonderbare Dinge. Meine Mutter träumte lange Zeit, dass mein Vater ihr in seinem braunen Anzug erschien, fertig, um zur Arbeit zu gehen, und dass er zu ihr sagte, komm mit, ich brauche dich […] David hingegen sagte nichts, er stand still da und sah mich an, zwischen Schatten und Licht. […] Plötzlich hatte ich genug vom Warten, streckte die Hand nach ihm aus, und schon war es Morgen, mein Zimmer war leer, das Licht gleissend, David verschwunden, der Traum zerronnen, meine Hand erhoben, unter dem Betttuch hervor, taub und eisig, mein Gesicht tränenüberströmt.“

Der Ich-Erzähler Raj ruft nach diesem Traum seinen Sohn an und bittet ihn, ihn nach Saint-Martin zu fahren. Sorgsam gekleidet wartet er zu Hause, bis er abgeholt wird. In Saint-Martin tritt er durch die Pforten des Friedhofs, wo er einen Grabstein sucht – den Grabstein von David. All die Jahre wollte er immer hierher kommen und hat es trotzdem nie geschafft – nicht gekonnt. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen des inzwischen siebzigjährigen Mannes.

Zusammen mit seinen Eltern und seinen zwei Brüdern Anil und Vinod lebt der achtjährige Raj am Rande des Zuckerrohrfeldes, in einem Ort namens Mapou, den man nur „das Camp“ nennt. Die Behausungen sind weniger Häuser, denn elende Hütten aus Stroh und Lehm. Die Familie hat unter der Gewalttätigkeit des Vaters zu leiden.

„Der Abend brach schnell herein, die Männer kamen vom Feld, und nun begann ein anderes Leben für uns und unsere arme Mutter, ein Leben voller Geschrei, Alkoholdunst und Tränen.“

Die Mutter und die drei Kinder bekommen die Fäuste und Bambusrute regelmässig zu spüren. Vielleicht gerade deshalb hängen die Brüder wie Pech und Schwefel aneinander. Als ausgerechnet der kleine Raj, der oft kränkelt und eher schwächlich ist, als einziger die Schule besuchen soll, ist das für ihn völlig unverständlich. Ungern trennt er sich von seinen geliebten Brüdern, die ihn auf seinem Weg begleiten und nach der Schule wieder abholen.

Bei einem Unwetter, in das die drei geraten und vor dem sie zu flüchten versuchen, verliert Raj seine Brüder aus den Augen, sie sind wie von Geisterhand verschwunden.  Tage später findet man den zerquetschten Körper des jüngeren Bruders zwischen den Felsen im Fluss, an dem die Jungen sich gerne aufgehalten haben. Der ältere bleibt verschollen, einzig seine Rute, die er immer bei sich trug, wird gefunden. Warum hat ausgerechnet er, Raj, das Unglück überlebt? Eine Welt bricht für den Jungen zusammen.

Über dieses schreckliche Ereignis verliert zu Hause keiner ein Wort. Die dezimierte Familie verlässt nach diesem traumatischen Erlebnis das Camp und zieht in ein kleines Haus am Waldrand von Beau Bassin, wo der Vater die Stelle eines Gefängniswärters antritt. Die Trauer über den Verlust der Söhne bzw. der Brüder werden Mutter und Sohn ihr ganzes Leben begleiten.

„Man sagt, jemand ist Waise, Witwer oder Witwe, aber wenn man an einem einzigen Tag zwei Söhne verloren hat, an einem einzigen Tag zwei geliebte Brüder, was ist man dann? Welches Wort benennt, was man dann ist? Dieses Wort hätte uns geholfen, wir hätten genau gewusst woran wir litten, wenn die unerklärlichen Tränen kamen und wenn, Jahre später, ein Duft, eine Farbe, ein Geschmack im Mund genügten, um uns wieder traurig werden zu lassen.“

In der neuen Schule hält sich der Junge von den Kameraden fern. Alleine zieht er durch die Gegend, klettert auf Bäume und schmiegt sich in die Äste. Er führt Selbstgespräche und rollt sich in Erdlöchern zusammen wie ein schutzbedürftiges Tier.

„Draussen gab es zu viel Neues für mich allein, und ich hätte das Zuviel dieses blauen, stillen Himmels gern geteilt, die Masslosigkeit dieses unendlichen, kräftig-grünen Waldes und vor allem dieses Schweigen, das sich dehnte, sich dehnte wie das Meer und überall einnistete, im Haus, hinter meinem Vater, rings um meine Mutter, morgens, abends, ein zähes Schweigen, an dem sich meine reduzierte Familie von nun an festhielt.“

Für Mutter und Sohn hat sich wenig geändert. Sie verhalten sich möglichst unauffällig, wenn der Vater nach Hause kommt, denn nun entlädt sich der ganze Zorn dieses Mannes nur noch auf ihnen beiden. Zwei Tage ohne Prügel bedeuten eine Verschnaufpause für die malträtierten Körper. Auch wenn die Mutter selbst übel zugerichtet wird, macht sie sich auf, um für ihren einzigen Sohn Kräuter und Wurzeln zu Salben, Tinkturen und Tees zu verarbeiten, um ihn gesund zu pflegen. Der misshandelte Junge kann sich manchmal tagelang nicht mehr aus dem Bett erheben.

In den Sommerferien bringt Raj seinem Vater regelmässig das Mittagessen ans Gefängnistor. Aus einem sicheren Versteck beobachtet er das Geschehen auf dem Hof, als ihm ein magerer Junge mit blonden Locken auffällt. Ihre Augen begegnen sich für einen kurzen Moment und nun sucht Raj den Gefängnishof jeden Tag nach diesem Jungen ab, der jedoch nicht zurückkehrt. Was hat dieser Junge mit  Gaunern, Dieben und Halunken zu tun, von denen sein Vater ihm erzählt hat, die hier eingesperrt seien?

Raj begeht den fatalen Fehler, eines Abends auf seinen Vater einzureden. Der Junge wird einmal mehr so fürchterlich zugerichtet, dass er diesmal ins Gefängnisspital gebracht werden muss. Hier trifft er diesen Jungen wieder und sie versuchen sich zu verständigen, denn der Junge spricht in einer ihm fremden Sprache. Raj erfährt, dass sein neuer Kamerad David heisst und aus einer Stadt namens Prag kommt. Als es Raj besser geht, machen die beiden nachts heimliche Ausflüge ins Freie und spielen Flugzeug. Nach der Rückkehr ins Elternhaus, sieht er seinen neuen Freund wochenlang nicht mehr und hält vergeblich Ausschau nach ihm.

Im Sommer fegen oft heftige Wirbelstürme über die Insel. Auch im Jahre 1945 verwüstet ein Zyklon weite Teile des Landes. Während das Haus der Familie dem Sturm standhält, ist der Wald nicht mehr wiederzuerkennen. Für Raj gestaltet sich der Weg zu einem mühsamen Hindernisparcours. Auch der Gefängnishof, in dem einst farbenprächtige Bougainvilleas geblüht haben und ein mächtiger Mangobaum stand, ist verwüstet. Erst jetzt offenbart sich die ganze Hässlichkeit dieses Ortes. Die abgemagerten Insassen veranstalten einen Höllenkrach und entwickeln trotz ihrer Schwäche eine gemeinsame Stärke. Die Polizisten haben alle Hände voll zu tun, um den Tumult im Zaum zu halten. Diese Gelegenheit nutzt David zum Entkommen. Zusammen mit der Mutter, die seit dem Tod ihrer Söhne erstmals wieder lachen kann, verbringen die beiden Freunde einen Moment der Unbekümmertheit, nichts ahnend, dass sie nur von kurzer Dauer sein wird.

In dieses Buch habe ich mich von der ersten Seite an verliebt. Es strahlt, trotz dem Thema von Brutalität, Armut und Krieg eine unglaubliche Wärme aus, die mich wie zwei Arme umfangen hat und zu tiefst berührt hat. Die Autorin vermittelt Rajs Freundschaft zu David mit sehr eindringlichen Worten. Und es gibt so viele Stellen im Roman, die sich in mein Gedächtnis einbrennen wollten, wie auch dieses Zitat:

„Manchmal sprach er sehr schnell, und heute begreife ich, dass er in seiner Sprache, dem Jiddischen, Halt suchte, denn sie war alles, was ihm geblieben war.“

Der Liebe und Güte der Mutter des Ich-Erzählers ist es zu verdanken, dass er auf seinem Weg ins Erwachsenenalter nicht gestrauchelt ist. Trotz der von Misshandlung und Verlust überschatteten Kindheit war er fähig, seine Liebe einer Frau und einem Sohn zu schenken.

Erst durch die Autorin Nathacha Appanah, die 1973 auf der Insel Mauritius geboren wurde und heute in Frankreich lebt, habe ich von dieser Gruppe jüdischer Flüchtlinge erfahren, die während des 2. Weltkrieges durch die Briten auf der Insel interniert wurde. Der Ich-Erzähler, der damals ein Kind war, lebte abgeschottet vom Rest der Welt und weitab von den Wirren des Krieges. Er hatte somit keine Ahnung, wie anderswo die Zerstörung und Vernichtung tobte. In der Schule wird er sogar ausgelacht, als er sich beim Lehrer nach den Juden auf der Insel erkundigt. Dieses Wissen hat der Leser dem Kind voraus, er erahnt bald, worum es sich bei David und den anderen Gefängnisinsassen handelt.

Nathacha Appanah ist auf historischem Hintergrund eine fiktive Geschichte über Freundschaft gelungen, die sich über Hürden wie Herkunft und Religion hinwegsetzt. Mit einer leisen und doch eindringlichen Stimme, voller Melancholie, hat mich der Ich-Erzähler bei der Hand genommen und auf eine Gefühlsreise mitgenommen, die mit mir Achterbahn gefahren ist. Am Ende habe ich mit Wehmut und einem Seufzer den Deckel dieses literarischen Schatzes zugeklappt. Für mich persönlich ist es bis jetzt die schönste Lektüre, die ich in diesem Jahr entdecken durfte.

Nathacha Appanah „Der letzte Bruder“
erschienen im Unionsverlag
ISBN 978-3-293-20583-6

In einem Artikel auf Spiegel online kann mann über die internierten Juden auf Mauritius, während des 2. Weltkrieges mehr erfahren.

Ich packe einen Reisebücherkoffer

…. für Phileas Blog, auf dem Petra erneut ein spannendes Projekt gestartet hat mit dem Bücherkoffer für Reiseliteratur. Ein herzliches Dankeschön an Petra, die die Superidee mit der Reiseliteratur hatte, und dass ich mitmachen durfte. Es hat grossen Spass gemacht 🙂

Wer den Artikel lesen möchte, der klicke hier