Wovon wir träumten

Das Heimatland zu verlassen und ein neues Leben in einer fremden Kultur zu beginnen, stelle ich mir schwierig vor. Julie Otsuka, eine amerikanische Autorin, geboren 1972, mit japanischen Vorfahren, wie man unschwer an ihrem Familiennamen erkennen kann, hat einen Roman, über die wahre Geschichte einer Gruppe junger Japanerinnen geschrieben, die als sogenannte „picture brides“ anfangs des 20. Jahrhunderts nach  Kalifornien auswandern. Hier warten Japaner auf sie, die sie nur auf Fotos gesehen haben, die ihnen der Heiratsvermittler gezeigt hat. Wenige Briefe, die sie eine bessere Zukunft erhoffen lässt, haben ihnen die zukünftigen Ehemänner zuvor geschrieben.

Die jüngste unter ihnen ist gerade einmal zwölf Jahre alt und die älteste siebenunddreissig. Sie versprechen sich in Amerika ein Leben, das besser ist als an der Seite eines Bauern im Dorf – weit weg von der  beschwerlichen Arbeit auf den Reisfeldern. Die Frauen kommen aus allen Landesteilen und Schichten Japans. Ausser einigen Klischees haben sie kaum eine Ahnung vom fernen Kontinent. Auf der wochenlangen Überfahrt auf dem Zwischendeck des Schiffes, bleibt ihnen genügend Zeit, um sich über das Land und seine Bewohner auszutauschen und sich über die wartenden Männer zu unterhalten. Die Reise ist beschwerlich und sie haben mit Seekrankheit, Wanzen, Ratten und anderem Übel zu kämpfen.

Noch bevor das Schiff San Francisco erreicht, endet der Traum für die einen bereits jäh, denn sie lassen sich auf ein Verhältnis mit Matrosen ein, das nicht ohne Folgen bleibt und so stürzt sich die eine ins Meer, die andere versucht ihr Geheimnis zu vertuschen.

Das Ungewöhnliche an diesem Roman ist die Erzählweise, die die Autorin gewählt hat, denn sie lässt die Frauen im Kollektiv berichten, das heisst, es wird kein Einzelschicksal erzählt, sondern Momente aller Frauen:

„Einige von uns auf dem Schiff kamen aus Kyoto und waren zierlich und hübsch und hatten ihr gesamtes Leben in abgedunkelten Hinterhofzimmern gewohnt. Einige von uns kamen aus Nara und beteten dreimal täglich […] Einige von uns waren Bauerntöchter aus Yamaguchi, mit kräftigen Handgelenken und breiten Schultern […]. Einige von uns kamen aus Tokio und hatten schon alles gesehen und sprachen ein wunderschönes Japanisch […]“

In San Francisco nehmen die Männer ihre zukünftigen Frauen in Empfang. Für die meisten der Japanerinnen stellt sich bald heraus, dass es für sie hier nicht einfacher ist als in Japan. Für die noblen Damen, die keine Ahnung von Feld- und Hausarbeit haben, wird der Alltag zum Albtraum. Sie hatten sich ein angenehmes Leben an der Seite eines Kaufmanns, eines Farmers oder Geschäftsinhabers vorgestellt. Wie sich herausstellt, war alles eine einzige Lüge. Stattdessen ziehen sie mit ihren Männern als Erntehelfer durch das Land und putzen für die weisse Oberschicht, wohnen in Schuppen und schäbigen Hinterzimmern. Im Verlaufe der Jahre erarbeiten sich die einen zwar einen gewissen Wohlstand, das Auskommen wird trotzdem nicht einfacher. In der Landwirtschaft werden sie gar zur Konkurrenz für die Weissen, die auf brutale Weise darauf reagieren:

„Manchmal brannten sie unsere Felder genau dann nieder, wenn sie zu reifen begannen, und wir verloren unsere gesamten Einnahmen für dieses Jahr. Und auch wenn wir am nächsten Morgen Fussspuren im Dreck entdeckten und viele verstreute Zündhölzer und daraufhin den Sheriff baten, vorbeizukommen und sich das anzusehen, sagte er nur, dass es keine Spuren gab, die eine Weiterverfolgung lohnten.“

Sie gründen Familien, leben aber in eigenen Kommunen, wo kaum Kontakt zu weissen Amerikanern besteht, denn diese akzeptieren sie nicht als ihre Nachbarn. Kein Wunder lernen sie nur wenig und schlecht Englisch und ihre Kinder, die sich amerikanische Vornamen zulegen, schämen sich ihrer Mütter, weil diese immer noch an den japanischen Traditionen festhalten. Manch eine der Frauen wünscht sich, sie wäre nie nach Amerika gekommen.

„Meistens schämten sie sich für uns. Für unsere weichen Strohhüte und unsere zerschlissenen Kleider. Unseren starken Akzent. […] Sie wollten andere und bessere Mütter, die nicht so abgearbeitet aussahen.“

Als der 2. Weltkrieg ausbricht und die Japaner Pearl Harbor bombardieren, fängt ein Leben in Angst an.

„Mitsuko ging eines Abends vor dem Essen raus, um Eier aus dem Hühnerstall zu holen, und entdeckte, dass ihre Wäsche auf der Leine brannte. Und wir wussten, dass das erst der Anfang war.“

Es kursiert das Gerücht von einer Liste. Keiner weiss, ob diese wirklich existiert und aus welchen Gründen man darauf aufgeführt wird. Wer auf dieser Liste steht, wird verhaftet und abtransportiert. Die japanische Bevölkerung versucht sich noch unauffälliger zu verhalten als sonst, sie ziehen sich zurück und schweigen.

Schon allein, dass ein Japaner als Fischer arbeitet oder an der Küste lebt, macht ihn der Kollaboration mit dem Feind verdächtig. Grund genug, sie an einen Ort zu bringen, wo sie für Amerika keine Gefahr darstellen. Die einen schlafen in ihren Kleidern, stellen die fein säuberlich geputzten Schuhe vors Bett, damit sie bereit sind, wenn man sie abholen kommt. Obwohl Weisse in die ersten verwaisten Häuser der Nachbarn einbrechen und die Räume plündern, wehrt sich keiner, sondern hält sich still.

„Einige von uns zogen los und besorgten sich Schlafsäcke und Koffer für ihre Kinder, nur für den Fall, dass sie als Nächste dran waren. Andere von uns gingen ganz normal ihrer Arbeit nach und versuchten ruhig zu bleiben. …….[…] Was passiert, passiert, sagten wir uns, es hatte keinen Zweck, die Götter herauszufordern.“

Der Roman ist in acht Kapitel gegliedert, in sieben kommen die japanischen Frauen zu Wort, im achten Kapitel mit dem Titel „Verschwinden“ wird das Wort den Weissen übergeben. Fast lautlos sind die Japaner verschwunden, zurück bleiben ihre Häuser und Geschäfte. Die Hausangestellte kommt nicht mehr zur Arbeit, der Platz in der Schule bleibt leer. Beklagen die Weissen am Anfang noch das Wegbleiben dieser Menschen, verblasst nach einigen Monaten ihr Bild, die Gespräche über sie verstummen, die Namen gehen vergessen. Briefe, die die Jugendlichen ausgetauscht haben, bleiben aus. Ihre Arbeitsplätze nehmen nun Philippinos und Mexikaner ein, Chinesen übernehmen ihre Geschäfte. Ist man anfangs noch unzufrieden mit diesen Arbeitern, arrangiert man sich im Laufe der Zeit mit ihnen und gewöhnt sich an ihre Arbeitsweise. Das Leben geht weiter, als hätte es die Japaner nie gegeben.

„Ungelesene Zeitungen liegen verstreut auf ihren absackenden Veranden und in ihren Vorgärten. Verlassene Autos stehen in ihren Auffahrten. Dickes knolliges Unkraut spriesst auf ihren Rasen. In ihren Gärten verwelken die Tulpen.“

Julie Otsuka ist ein unglaublicher Roman gelungen, der ein Stück Geschichte ans Licht bringt, das bitter schmeckt und kein Ruhmesblatt für die Amerikaner darstellt. Die japanischen Einwanderer wurden genauso diskriminiert und schlecht behandelt wie die schwarze Bevölkerung. Gerade, weil die Autorin den Frauen eine Kollektivstimme gibt, erfährt der Leser in diesem schmalen Buch weit mehr, als wenn ein Einzelschicksal erzählt worden wäre. Diese Frauen waren voller Hoffnungen, aber ihr Traum platzte für die meisten von ihnen wie eine Seifenblase. Was blieb war Entbehrung, harte Arbeit, Enttäuschung und Demütigung. Ein erschütterndes Stück Zeitgeschichte – ein lesenswertes und empfehlenswertes Buch, das mich zu tiefst aufgewühlt hat und mir zu Herzen gegangen ist.