Chronik der Nähe

„Chronik der Nähe“ der deutschen Autorin Annette Pehnt, erzählt die Geschichte von drei Frauen: Grossmutter, Mutter und Tochter. Die Zeitspanne reicht vom 2. Weltkrieg bis heute. Das Buch ist bei Piper erschienen und die Autorin wurde im gerade erst im Mai mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet.

Annie wächst während des 2. Weltkrieges auf und wird von ihren Eltern meist alleine gelassen. Der Vater, ein Kunstmaler, ist auf dem Lande und malt seine Bilder, während die Mutter unterwegs ist, um bei den Bauern Lebensmittel zu beschaffen. Wie sie, trotz Geldmangel, zu Butter und anderen Köstlichkeiten kommt, bleibt ihr Geheimnis. Oft kommt sie erst mitten in der Nacht von ihren Streifzügen nach Hause.

„Dann holte sie langsam und feierlich ein in Zeitung eingeschlagenes Stück Butter aus der Manteltasche, ihre Beute für Annie: der Preis für die Stunden allein im Obstgarten, und Annie hatte sich zu freuen über die Butter und Mutters Mut.“

Das Wohnhaus der Familie wird, kurz vor Ende des Krieges, zerbombt und nicht nur das, auch Annies Vater fällt eines Tages einfach tot um, unbegreiflich für das Kind. Einige Zeit leben nun Mutter und Tochter in einer Baracke, mit ihnen auch Onkel Hermann, der ebenfalls sein Obdach verloren hat. Die Mutter ist nun für alle drei verantwortlich und beschliesst, in die Stadt zu ziehen, wo sie in der neuen Wohnung einen Mittagstisch einrichtet. Nun sitzen Beamte und Lehrer und eine ältere Dame an ihrem Tisch und geniessen das deftige Essen, das Annies Mutter für sie zubereitet. Annie muss mithelfen und gibt zudem Nachhilfestunden in Latein und Französisch. Sie wird älter und muss sich die begehrlichen Blicke der Gäste, auch die vom Onkel und Berührungen der Jungen über sich ergehen lassen. Annie atmet deshalb auf, als Mutter beschliesst, diese Arbeit aufzugeben und sich an einer Apotheke beteiligt, indem sie dem Apotheker Geld leiht. Woher Mutter das Geld hat, ist erneut schleierhaft. Annie muss noch einige Pläne der Mutter über sich ergehen lassen, auch eine Ferienreise in den Schwarzwald, die ihr sehr zuwider ist.

„Abitur“, murmelt der Onkel Hermann und kneift die Augen abschätzig zu Schlitzen, „und wozu soll das gut sein für ein junges Mädchen.“

Annie studiert und befreit sich so aus der Umklammerung ihrer Mutter und des Onkels. Nur noch selten findet sie den Weg nach Hause, keine Zeit. Doch Briefe, die schafft sie und was wichtig ist, dass sie der Mutter immer ihre Liebe beteuert.

Die Tochter von Annie, erlebt der Leser als Ich-Erzählerin, die inzwischen Mutter von zwei Kindern ist. Sie sitzt an mehreren Tagen am Spitalbett ihrer sterbenden Mutter und spricht in einem Monolog zu Annie, da sie nicht mehr sprechen kann. Sie lässt ihr bisheriges Leben als Kind und junge Erwachsene Revue passieren, spricht von ihren vielen Ängsten, die sie schon als kleines Mädchen geplagt haben. Sie hatte Angst, ihre Eltern könnten sie verlassen und deshalb war sie immer froh, wenn sie die Schuhe im Korridor stehen sah, denn ohne Schuhe geht niemand fort. Selbst beim Probealarm in der Schule erstarrte sie vor Angst, ausgerechnet sie, die den Krieg nicht erlebt hat. Sie berichtet über die schönsten Stunden, die sie bei ihrem Therapeuten erlebte, weil er ihr zugehört hatte und der sie fragte, wie es ihr ginge.Annie warf ihrer Tochter vor, dass sie als Baby immer nur geschrien und dadurch unter Schlafmangel gelitten habe. „Schlafentzug ist Folter“. Von ihrer Mutter erfuhr sie nur sehr wenig über deren Kindheit und erst kurz vor der Einweisung ins Spital, schafft es die junge Frau, Annie zu einer gemeinsamen Reise zu überreden. Immer hatte die Mutter eine Ausrede und in den Schwarzwald wollte sie auf gar keinen Fall. Auf Rügen kommen sie sich endlich näher und die Tochter möchte so viele Fragen stellen.

„[…] aber müde könntest du sein und sagen, komm, Schatz, das war ein langer Tag: schnell. Eine Frage muss her, welche nehme ich, welche ist die wichtigste, welche wird die Türen öffnen, alle auf einmal.
– Komm, Schatz, sagst du, so allmählich wird es Zeit.
Ich greif deinen Arm, fast erschrickst du, so fest, und rufe, warte, Mama, irgendeine Frage wir mir ja wohl einfallen: Wann genau hast du eigentlich Papa geheiratet.“

Die Verzweiflung der Ich-Erzählerin aus diesem Abschnitt ist förmlich heraus zu spüren. Welches ist der richtige Moment und wie bringt man die Mutter endlich dazu, etwas aus ihrer Vergangenheit zu erzählen? Doch es ist verständlich, dass Annie, die Zeit , die ihre Kindheit und Jugendzeit betrifft, die durch den Krieg und die Nachkriegszeit geprägt ist, am liebsten ausblenden würde. Als Kind, sich viel alleine überlassen, erinnert sie sich nur gerade an einen gemeinsamen Ausflug mit Vater und Mutter. Drei Frauengenerationen, in denen die Väter und Ehemänner nur am Rande in Erscheinung treten, wollen geliebt werden, von ihrer Tochter oder Mutter. Annie erfährt von ihrer Mutter Distanz, dann wieder wird sie fast zu Liebe genötigt. Die Mutter will bewundert werden und erwartet Applaus von Annie. Umso schwerer fällt es Annie, sich ihrer eigenen Tochter zu öffnen, was durch diese in ihrem Selbstgespräch am Spitalbett schmerzlich zu spüren ist. Die ersehnte Nähe lässt Annie nicht zu.

Annette Pehnt hat auf zwei verschiedenen Ebenen, in der erzählenden Vergangenheit und durch den Monolog der Ich-Erzählerin, ein wunderbares und für mich sehr starkes Buch geschrieben. Sehr eindringlich waren für mich die Schilderungen, in der das Kind Annie von ihrer Mutter in den Schutzraum eingesperrt wurde, denn die Beine wollten sie einfach nicht mehr tragen, wenn die Sirene heulte. Es wurde von diesem Mädchen sehr viel abverlangt und sie musste früh sehr eigenständig werden. Die Autorin macht einem bewusst, dass die Vergangenheit der Eltern immer auch das eigene Leben in irgendeiner Weise mitprägen wird. Nach der Lektüre schätzt man sich umso glücklicher, wenn man auf eine Kindheit zurückblicken kann, die Nähe und Liebe zuliess ohne dazu erpresst worden zu sein.

Den Trailer zum Buch gibt es hier