Eine Fähr(t)e von Lesern

Wie schlägt man sich vier Stunden auf See um die Ohren?

Man schläft, trinkt und isst, sonnt sich an Deck, läuft umher, diskutiert, spielt Karten oder …

… liest. Da schlägt das Bücherherz höher, wenn man in einen der Salons kommt und sieht, wie viele junge und ältere Passagiere Zeitungen, Reiseführer und Romane lesen. Eine wahrlich belesene Fähre 😉

Wir lesen

Zu Besuch bei Ella Maillart (Teil 2)

Ella Maillart, die Reisepionierin liess sich 1945 in Chandolin nieder, einem kleinen Dorf auf 2000 Metern Höhe, im Val d’Anniviers. Auch die Schriftstellerin Corinna S. Bille zog sich in einem Seitental in ihr Maiensäss zurück.

Wir waren im einzigen Bücherdorf der Schweiz, im Antiquariat „La plume voyageuse“, wo uns die Antiquarin mit einer Begeisterung riet, unbedingt den Wohnort von Ella Maillart zu besuchen, es erinnere sie stark an den Tibet. Die Dame musste es ja wissen, ist sie doch selbst weit in der Welt herumgekommen.

Da wir einige Tage im ältesten Hotel des Tales verbringen wollten, bot sich ein Abstecher ins höher gelegene Dorf geradezu an. Den Eingang ins Val d’Anniviers erreicht man vom Rhonetal bei Sierre. Die Strasse ist sehr kurvenreich und schraubt sich, den Felswänden entlang, langsam in die Höhe.

Strasse ins Val d'Anniviers

Als Beifahrer blickt man tief in die Schlucht hinunter. Da kommt manch einer ins Schlucken. Immer weiter stösst man nach hinten, bis sich das Tal öffnet und einen traumhaften Blick auf die Bergwelt freigibt, vor allem auf den Berg des Wallis, auf das Matterhorn. Allerdings zeigt sich der Berg von ungewohnter Seite – von hinten. Das tut der Faszination jedoch keinen Abbruch.

Matterhorn Von Vissoie aus geht es nochmals achthundert Höhenmeter hinauf. Die Strasse wird immer schmaler. Und schliesslich sind wir auf einem grossen, etwas öden Platz, wo auch für das Postauto Endstation ist. Ich mache einen Abstecher ins Tourismusbüro und erkläre, dass ich mich für Ella Maillart interessiere. Die Dame übergibt mir einen Schlüssel für das Museum, das im alten Dorfkern liegt. Das Dorf ist vom Platz aus nicht zu sehen. Einige Minuten Fussmarsch und wir erblicken erst einmal die Kirche.

Kirche Chandolin

Die typischen Walliser Häuser, deren Holz durch Jahrzehnte intensiver Sonneneinstrahlung schwarz geworden ist, kleben wie Schwalbennester am Steilhang. Und nun verstehe ich auch, was die Antiquarin mit Tibet meinte. Ob Tibet oder Ladakh, es geht einfach nur runter. Es erstaunt mich immer wieder, dass die Gebäude nicht abrutschen.

Chandolin

Im Dorf ist keine Menschenseele anzutreffen und schon stehen wir vor dem kleinen Museum, das in der alten Kapelle untergebracht ist. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, der tatsächlich passt und wir haben ein Museum ganz für uns allein. Keiner der uns den Blick vor den Vitrinen versperrt. Und in aller Ruhe können wir uns die Fotos, Dokumente, Bücher und Reise-Accessoires, die im einzigen Raum ausgestellt sind, ansehen und die Begleittexte lesen.

Notizbuch

Museum Ella Maillart

Eine Treppe führt ausserhalb der Kapelle ins Obergeschoss, wo ein kleiner Teil von Ellas Bibliothek untergebracht ist. Und dann wartet auf uns auch noch ein 45 minütiger Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens. Ein Journalist besuchte die Autorin wenige Jahre vor ihrem Tode und liess sie erzählen. Auch im Alter von 93 Jahren hatte die Frau eine sehr bestimmte Art aufzutreten und noch immer blitzte der Zorn aus ihren Augen, als sie berichtete, wie sie in der Schweiz als Kommunisten-Sympathisantin abgestempelt wurde, weil sie Russland intensiv bereist hatte. Es ist spannend, der Frau beim Erzählen zuzuhören.

Museum Ella Maillart

Im Tourismusbüro sagte man mir, dass ich den Schlüssel vor zwölf Uhr wieder abgeben müsste. Es ist zehn vor Zwölf – eilig schliessen wir hinter uns die Türen und hetzen den steilen Weg hinauf. Völlig ausser Atem, stürze ich noch rechtzeitig ins Büro, um meine Identitätskarte abzuholen und mich nach dem Laden zu erkundigen, wo Postkarten und Bücher von Ella Maillart zu kaufen sind. Der ist Gott sei Dank gleich vis à vis und ich stürme auf den letzten Drücker auch dort rein, denn es ist nicht sicher, dass am Nachmittag der Laden nochmals geöffnet wird. Es ist kein Ansturm von Kundschaft zu erwarten. Aber die Ladenbetreiberin wartet wohl gerne noch einige Minuten, wenn schon mal jemand vorbeikommt, um etwas zu kaufen.

Chandolin Umgebung

Die Einkäufe sind getan. Wir nehmen den Fussweg wieder zurück ins Dorf runter, machen Halt beim winzigen Alpenmuseum, das auch nur ein grosser Schaukasten ist und Flora und Fauna der Alpen präsentiert und erklärt.

Wir suchen das Häuschen von Ella Maillart, namens „Atchala“, wo sie bis zu ihrem Tod gelebt hat. Aber da ist niemand und doch scheint es mir, als müsste die alte Dame gleich um die Ecke kommen. Ihr Geist begleitet uns auf unserem Rundgang, auch als wir auf den Kalvarienberg steigen, wo sie sich gerne auf einer Bank niederliess und sicher den atemberaubenden Blick ins Rhonetal genossen hat. Kein Wunder, hat sich diese bemerkenswerte Frau hier oben wohl gefühlt, denn es ist ein schönes Fleckchen Erde. Reich beschenkt an Eindrücken kehren wir von unserem Ausflug zurück ins Hotel und haben noch viel zu diskutieren über eine Reisepionierin, die nur noch wenige kennen.

Chalet Atchala

Museum:
Espace Ella Maillart
CH-3961 Chandolin

Website: http://www.ellamaillart.ch

Photographien sind ausgestellt im Musée de l’Elysée, Lausanne
Website: http://www.elysee.ch

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Die Reisepionierin Ella Maillart (Teil 1)

Seglerin an Olympischen Spielen, Gründerin der ersten Frauen-Landhockey-Mannschaft der Westschweiz, Nationalmannschafts-Mitglied im Skirennsport und Reisegefährtin von Annemarie Schwarzenbach nach Afghanistan.

Das sind nur einige ungewöhnliche Beschreibungen dieser aussergewöhnlichen Frau. Ella Maillart, geboren am 20. Februar 1903 in Genf, Tochter eines erfolgreichen Pelzhändlers und einer sportlichen dänischen Mutter, wird schon früh mit dem Wasser vertraut und im Winter nimmt sie die Mutter zum Skilaufen in die Berge mit, als dies noch als englische Marotte gilt. Mit 21 Jahren nimmt sie an den Olympischen Sommerspielen im Einhandsegeln teil. Später startet sie auch als Skirennfahrerin für die Schweizer Nationalmannschaft. Ella interessiert sich schon früh für Abenteuerbücher und wenn sie nicht mit ihrer Freundin „Miette“, der Tochter eines französischen Marineoffiziers, auf dem Wasser oder am Skifahren ist, dann steckt sie ihre Nase in Bücher.

Die Freundinnen nehmen schon mit dreizehn Jahren an Segelregatten teil, lernen immer grössere Boote zu steuern und sind noch keine zwanzig, als sie mit einem sieben Meter langen Kutter ohne Hilfsmotor von der französischen Riviera nach Korsika segeln. Sie sind vier Frauen, die erneut aufbrechen, diesmal auf der „Bonita“, und nach Korsika, Sardinien und Sizilien segeln, um schliesslich auf den Spuren des Odysseus ins Ionische Meer zu gelangen. Später wollen sie auf dem umgebauten Thonkutter „Atalante“ auf demselben Weg wie zuvor ihr Freund Alain Gerbault die Überquerung des Atlantik in Angriff nehmen. Doch die Freundin „Miette“ erkrankt noch vor Bretagnes Küste. Das Vorhaben wird abgebrochen und als „Miette“ heiratet, wird Ellas Traum, ein Leben auf See zu verbringen, begraben.

Ella Maillart_3

Ella versucht sich in diversen Berufen, von Stenotypistin, über Schauspielerin und Modell für einen Bildhauer stehen, aber nur das Segeln und Skifahren befriedigen die junge Frau.

„Nur wenn ich segelte oder Ski lief, war ich ein richtiger Mensch; sonst fühlte ich mich verloren, halb tot. Alles was ich sah und las war bedrückend. Der letzte aller Kriege zeitigte nur Kompromisse, künstliche Ideale und endlose Verhandlungen, die keinen wirklichen Frieden zu schaffen vermochten […]“

Stuntwoman für Bergfilme der UFA in Berlin, Schauspielerin in einem Ski-Film in Mürren, 1931-32 Leiterin der Schweizerischen Damen-Landhockey-Mannschaft und während vier Jahren, von 1931 bis 34, vertritt sie als Mitglied der Schweizer Ski-Mannschaft ihr Land an den Ski-Weltmeisterschaften. Noch wichtiger als das Segeln ist für Ella das Skilaufen, dem sie alles andere unterordnet.

Ella Maillart_6

Als sie 1929 in Berlin russische Emigranten trifft, kommt ihr die Idee, Reportagen über Russland zu schreiben und mit finanzieller Hilfe der Witwe von Jack London, reist die junge Frau nach Moskau. Es ist der Anfang ihres weiteren Lebens.

Bei der Gräfin Tolstoi findet sie Unterkunft und nachdem sie den Film „Sturm über Asien“ gesehen hat, reist sie mit einer Studentengruppe in den Kaukasus. 1932 schreibt sie ihr erstes Buch „Parmi la Jeunesse russe“ (Ausser Kurs – die Reise einer mutigen Frau in die unendlichen Weiten Russlands). Sie erhält ihren ersten Check über 6000 Franken. Das macht sie für das Reisen zwar unabhängig, zwingt sie aber gleichzeitig weiterhin zum Schreiben, sei es für Zeitungen oder um Bücher zu veröffentlichen. Nie käme es ihr in den Sinn, ihre Eltern um Geld anzubetteln, das lässt ihr Stolz nicht zu.

Ella Maillart als Mädchen und junge Frau

Immer weiter geht es nach Osten, und sie begegnet Kirgisen, Kasaken und Usbeken, besteigt Berge und gelangt schliesslich zur Wüste Takla-Makan, die zu jenem Zeitpunkt im für den Westen verbotenen China liegt. Alleine kehrt Ella, nur mit einem Rucksack ausgestattet, durch die südlichen Sowjet-Republiken nach Europa zurück. Sie durchquert dabei gefährliches Gebiet, ist sie doch ohne Bewilligung unterwegs und muss Kontrollposten meiden. Ihre Berichte und Filme werden in Paris zu einer Sensation.

Von 1934 bis 35 ist Ella Maillart für die französische Zeitung „Le Petit Parisien“ wieder in Asien unterwegs und reist nach China. In Peking begegnet sie erneut dem britischen Journalisten Peter Fleming, mit dem sie auf Anraten des Forschungsreisenden Sven Hedin, eine Route einschlägt, die Chinas Regierung nicht verboten hat, da sie durch extrem schwieriges Gebiet führt. So reisen Maillart und Fleming über Nord-Tibet, den Pamir und erreichen nach sieben Monaten Srinagar im indischen Kaschmir. Auf ihrer Reise umgehen sie Militärkontrollen und durchqueren Tsaidam, ein klimatisch extrem anspruchsvolles Hochland. Der Schriftsteller Paul Morand schreibt über Ella Maillart, als er sie in Paris wiedersieht:

„Jene, die ich meine ist eine Frau in Lammfellstiefeln und Fausthandschuhen, die Haut verbrannt von Berg- und Wüstenwind, die unbekannte Gebiete erforscht, mit Chinesen, Tibetern, Russen und Engländern, deren Socken sie flickt, deren Wunden sie verbindet und mit denen sie in aller Unschuld unter den Sternen schläft … Diese Frau ist Ella Maillart.“

Mantel, Stiefel und Reisekoffer

Sie unternimmt weitere Reisen im Auftrag des „Petit Parisien“ bis sie 1939 mit Annemarie Schwarzenbach in deren Ford Richtung Afghanistan aufbricht. In ihrem Buch „Flüchtige Idylle – Zwei Frauen unterwegs nach Afghanistan“, wird Annemarie zu Christina. Sie ist eine drogensüchtige junge Frau und so ganz anders als die robuste Ella, die vergeblich versucht, Annemarie von den Drogen loszubekommen. In Kabul trennen sich denn auch ihre Wege.

Reiseroute von Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach nach Kabul

Reiseroute von Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach nach Kabul

Ella Maillart

Annemarie Schwarzenbachs Ford auf dem Transport über das Schwarze Meer

Während dem Zweiten Weltkrieg hält sich Ella vorwiegend in Indien auf und befasst sich in dieser Zeit ausführlich mit der Lehre der Harmonie und beginnt ihr Inneres zu erforschen. Als sie nach Kriegsende in die Schweiz zurückkehrt, lässt sie sich in dem abgelegenen Walliser Bergdorf Chandolin, im Val d’Anniviers, nieder. Sechs Monate des Jahres verbringt sie an diesem atemberaubenden Ort auf 2000 Metern Höhe und baut ihr erstes eigenes Haus, namens „Atchala“, benannt nach dem heiligen Berg Arunatchala.

Ella Maillart_2

Noch dreissig Jahre lang reist Ella Maillart nach Asien, dreht Dokumentarfilme und oranisiert für kleine Reisegruppen Kulturreisen in verschiedene asiatische Länder, hält Vorträge und schreibt Bücher. Am 27. März 1997 geht eine lange und unglaublich eindrückliche Reise zu Ende. Im Alter von 94 Jahren schliesst die grosse Reisepionierin, in ihrem Wohnort Chandolin, für immer die Augen.

Die Welt neu entdecken mit einer blinden Journalistin

Wieder einmal schenkt ARTE dem Fernsehzuschauer ein sehr spezielles Seherlebnis, das mich bereits nach der ersten Folge, die ich mir angesehen habe, begeistert.

Darf ich vorstellen: Sophie Massieu, 36 Jahre alt, aus Frankreich, blind seit ihrer Geburt, Journalistin. In 40 30-minütigen Sendungen zeigt sie uns Sehenden die Welt, wie sie sie erlebt. Bis zum 27. April kann man Sophie auf ihren Reisen rund um den Globus begleiten. Diese Woche wurden Beiträge von den Kanarischen Inseln, aus New York und Irland ausgestrahlt. Heute Abend ist die blinde Weltenbummlerin in Ungarn unterwegs, immer an ihrer Seite, der treue Blindenhund Pongo, ein Dalmatiner.

Ich habe Sophie Massieu nach British Columbia begleitet, unter anderem war sie beim „Whale Watching“! Sie hat die Wale mit dem Sonargerät belauscht und wenn die Killerwale kurz aus dem Wasser auftauchten und mit ihren Schwanzflossen auf das Wasser platschten, gehört. In einer Lachszucht hat sie mitgeholfen, die Fische zu füttern und gespürt, wie die kleinen Fische an ihren Fingern knabberten, als sie mit der Hand übers Wasser strich. Im Kanu ist sie mitgepaddelt und liess sich den letzten Urwald in British Columbia zeigen, legte ihre Arme um einen 400-jährigen Baum und liess sich erklären, wie hoch der alte Riese ist oder sie befühlte das Blatt eines Riesenahorn.

Es ist wunderbar mit dieser Frau, vom Sofa aus, durch die Welt zu reisen und die Dinge durch sie ganz anders und neu zu erleben und Entdecker zu werden. Manchmal gerät man gar ins Schmunzeln, wenn ihre sehenden Begleiter in eine Richtung zeigen und ganz selbstverständlich „look“ rufen oder ihr von weitem schon zuwinken, wenn Sophie mit Pongo im Anmarsch ist. Es ist nicht so, als müsste man die Journalistin anders behandeln als einen sehenden Gesprächspartner. Hin und wieder muss man sie am Arm führen, wenn sie ihren Hund irgendwo zurücklassen muss. Leicht könnte einer vergessen, dass Sophie blind ist, im wahrsten Sinne des Wortes ist sie mit Leib und Seele bei der Sache. Diese wissenshungrige Frau begeistert und hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert.

Ganz grosse Klasse!

Auf ARTE, Montag – Freitag, 17.30 Uhr „Was du nicht siehst“