Retten Sie wenigstens mein Kind

Ich habe mich wieder einmal auf der Verlagsseite des Schweizerischen Jugendschriftenwerks (SJW) umgesehen, von dem ich letztes Jahr bereits berichtet habe und mir ist wieder ein Titel ins Auge gestossen, den ich sehr lesenswert finde. Die Autorin Monika Fischer hat mit zehn Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg als Kind oder junge Erwachsene erlebt haben, gesprochen und ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Im ersten Teil kommen Juden zu Wort, die verfolgt und gedemütigt wurden, die das Konzentrationslager überlebt oder geliebte Menschen dadurch verloren haben, die durch halb Europa auf der Flucht waren und schliesslich in der Schweiz doch noch einen Zufluchtsort gefunden haben.

„Alfred kam ins berüchtigte Arbeitslager nach Lublin. Dort mussten die jungen Männer hart arbeiten. Wenn sie erschöpft und ausgehungert waren, wurden sie erschossen. So auch mein Bruder.“

Es werden Menschen erwähnt, die den Mut hatten den Verfolgten und Verzweifelten zu helfen, die Menschlichkeit hat über ihre Furcht und die Vorurteile gegenüber den Flüchtlingen gesiegt.

„Die einheimische Bevölkerung nahm uns gut auf. Es waren einfache Bauersleute. Sie hatten noch nie Juden gesehen und waren erstaunt, dass wir ganz normale Menschen sind. Sie verkauften mir Gemüse, Früchte und Brot, waren nett und hilfsbereit. Dies hat mir beim Tod meines Kindes sehr geholfen.“

Auch Schweizer kommen zu Wort, die von jener Zeit auf die eine oder andere Art geprägt wurden, wie zum Beispiel ein Grenzwächter, der oft nicht begriff, was er für Befehle umzusetzen hatte und doch hin und wieder ein Auge zudrückte.

„Manchmal vernahmen wir von einer geplanten Flucht. Dann ordnete ich an, dass in jener Nacht im betreffenden Abschnitt keine Grenzwächter patrouillierten.“ […] „Täglich standen wir 16 Stunden an der Grenze und fertigten 2000 bis 3000 Flüchtlinge ab. Viele Frauen kamen mit Kinderwagen. Andere hielten ihre Kleinkinder auf dem einen Arm und trugen am andern einen Koffer.“

Ein Mann, der als junger Soldat Aktivdienst an der Grenze zu Italien verrichtet hatte und später im Hotel der Eltern, das an der österreichischen Grenze liegt, erinnert sich an tragische Momente:

„Eines Tages hörte ich beim Heuen ein Geschrei auf der Brücke in der Nähe unseres Hotels. Der Zöllner musste drei Männer und zwei Frauen mit einem Baby zurückweisen. Es tue ihm leid, er verliere sonst seinen Posten […] Unverhofft sprang eine der Frauen zu meiner Mutter, kniete nieder, legte ihr das Kind zu Füssen und bat: „Retten Sie wenigstens mein Kind!“ Blitzschnell rannte sie davon. Der überraschte Zöllner wollte das Kind zurückbringen. Doch meine Mutter wehrte sich zusammen mit einer andern Frau für das Kind. Es wuchs in der Familie eines Zöllners auf. Von seinen Eltern hat es nie wieder etwas gehört.“

Eine Frau, die im Jura aufgewachsen ist und für das Rote Kreuz in Frankreich gearbeitet hat, wurde mit anderen Vertrauenspersonen zur Fluchthelferin und erzählt, wie sie Verfolgte über die grüne Grenze brachte.

„Es war eine Frage der Menschlichkeit. Ich hatte keine Angst. Es ist wie mit der Besteigung der Eigernordwand. Wer vor solchen Unternehmen Angst hat, darf sich nicht darauf einlassen.“

Jede einzelne Geschichte ist erschütternd, regt zum Denken an und gibt wiederum Grund zur Hoffnung. Ich finde es bemerkenswert, dass sich diese, inzwischen alten, Menschen, zur Verfügung gestellt haben, um ihre Erlebnisse und Eindrücke von damals zu erzählen. Für die Nachwelt ist es nach wie vor wichtig, dass sie von jenen dunklen Jahren erfahren. Ich hoffe, dass viele Eltern für ihre Kinder oder andere Interessierte dieses Büchlein bestellen und sich diese Geschichten, die einem durch und durch gehen, lesen und mithelfen, dass sich an unseren Grenzen und in der Welt solche Tragödien nie mehr wiederholen können.

„Retten Sie wenigstens mein Kind“ von Monika Fischer
Schweizerisches Jugendschriftenwerk
ISBN 3-7269-1002-6