Zürich liest 2013

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Dieses Jahr habe ich mir nur gerade einen Literaturanlass am „Zürich liest“-Literaturfestival ausgesucht. Man wird mit der Zeit verwöhnt und geht man jedes Jahr hin, ist es nicht zu vermeiden, dass sich gewisse Anlässe wiederholen, auch wenn andere Autoren eingeladen sind, ein anderer literarischer Spaziergang angeboten wird und aus einem Werk eines verstorbenen Autors auf dem Schiff vorgelesen wird.

Ich habe mich erneut für die Autoren, die für den Schweizer Buchpreis nominiert waren, entschieden: Ralph Dutli, Roman Graf, Jonas Lüscher, Jens Steiner und als einzige Frau Henriette Vásárhelyi. Es war am Freitagabend quasi der Endspurt, bevor die Preisverleihung am Sonntag an der BuchBasel stattfand.

Seit sechs Jahren werden die Autoren und ihre Romane im Literaturhaus vorgestellt. Hinter den Nominierten liegen viele Lesestationen und zwar nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland. Einige von ihnen waren ja bereits für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Das Literaturhaus war gerammelt voll. Die Literaturjournalistin Insa Wilke führte, wie schon letztes Jahr, durch den Abend, fühlte den Autoren mit ihren Fragen, die einen Bogen vom einen zum anderen bilden sollte, nochmals auf den Zahn.

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Sie fragte zum Beispiel, ob die Autoren am Schauplatz ihrer Handlung waren oder ob sie eigene Erfahrungen in ihrem Buch verarbeitet hätten. Jonas Lüscher war für seine Novelle „Frühling der Barbaren“ nicht in Tunesien, aber in der Regel besuche er für seine Recherchen schon gerne den entsprechenden Ort.

ZL_5Ralph Dutli, dessen Roman „Soutins letzte Fahrt“ in Paris angesiedelt ist, erzählte, dass er selbst zwölf Jahre in Paris gelebt habe und wohnte „einen Spaziergang entfernt, wie er sagte, von der Gegend, wo die Künstler verkehrten und ihre Ateliers hatten, so wie der Maler Chaim Soutin. Die Erfahrung eines Magengeschwürs oder von morphinen Träumen habe er aber nicht gemacht. Er habe sehr gute Unterstützung von Fachpersonen erhalten,

Seine Schilderungen im Roman müssen so gut sein, dass in Amerika jemand vermutet habe, er schreibe aus eigener Erfahrung. Er betrachte dies als Kompliment. Das zeige doch, dass ihm die Darstellung gelungen sei.

Roman Graf, der in „Niedergang“ über ein Paar schreibt, das eine Bergtour unternimmt, meinte, dass ihn vor allem die negativen Eigenschaften einer Person interessieren. André, seine Hauptfigur habe gewisse Züge von ihm – also nur einige – wie er dann noch hinzufügt. Denn André ist einem als Leser nicht immer sympathisch.

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Jens Steiner bestätigt, dass er, wie seine Figuren im Roman „Carambole“, in einem Dorf aufgewachsen sei. Ein Dorf, in ländlicher Umgebung, aber nicht allzu weit von der Stadt entfernt, kein Bahn- sondern nur mit Busanschluss. Und in der Tat, auch der Ort, an dem Steiner aufgewachsen ist, ist so ein Dorf.

Henriette Vásárhelyi, die in ihrem ersten Roman „immeer“ über eine Frau schreibt, die versucht über den Tod ihres Freundes hinwegzukommen, hat ihr nahestehende Menschen verloren. Aber das hat wohl jeder von uns.

Eineinhalb Stunden für fünf Gesprächspartner ist sehr knapp bemessen, so kommen dann auch nicht alle gleich zu Wort. Und jeder soll auch noch aus seinem Roman oder seiner Novelle etwas vorlesen. Bei Lüscher darf gelacht werden, bei Graf und Vásárhelyi ist man eher nachdenklich gestimmt. Jens Steiners Kapitel ist komisch und absurd zugleich. Es macht Spass, dem Autor zuzuhören. Insa Wilke erwähnt, dass das Buch auch ernsthaft und alles andere als lustig sei.

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Ralph Dutli liest Passagen vor, aus den morphinen Träumen von Chaim Soutil. Ihm könnte man noch lange zuhören, denn er fesselt den Zuhörer mit seiner Art zu lesen. Dutli betont ausdrücklich, dass sein Roman keine Biographie sei, über Chaim Soutil sei sehr wenig bekannt: „Was man nicht weiss, muss man erfinden.“

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Und genau das ist es, was das Lesen immer wieder interessant und abwechslungsreich macht, wenn man Geschichten zu lesen bekommt, die all die Autoren für uns erfinden und uns in eine andere Welt eintauchen lassen.

Dann ist die Zeit auch schon um. Lüscher und Graf atmen auf, es ist endlich geschafft. Jetzt heisst es warten auf den Sonntag. Ich lasse mir die Bücher, die ich mitgebracht habe, von jedem signieren. Jens Steiner erwähnt nochmals, dass sein Buch nicht nur lustig sei und Ralph Dutli zuckt nur mit den Achseln, als ich ihm Glück für die Preisverleihung wünsche.

Und noch während ich diesen Bericht schreibe, höre ich am Radio, dass Jens Steiner den diesjährigen Schweizer Buchpreis gewonnen hat.

Niedergang

Niedergang

Roman Graf, geboren 1978 in Winterthur, Schweiz, arbeitete nach seiner Ausbildung als Forstwart in verschiedenen Berufen und studierte am Leipziger Literaturinstitut. Für seinen ersten Roman „Herr Blanc“ erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem den Mara-Cassens-Preis 2009 und den Förderpreis des Berner Literaturpreises 2010. Der Autor lebt heute in Berlin.

Sein Roman „Niedergang“ war nominiert für den Schweizer Buchpreis 2013.

„Am höchsten hinauf, am weitesten kommt, wer mit der Natur verschmilzt, dachte André; das schlechte Wetter muss man sich zum Verbündeten machen.

Regenschwerer Neben hatte über Nacht das Tal gefüllt, klebte im Talgrund, hakte sich an Häuserecken, Dachvorsprüngen, Dachrinnen fest, erstickte das Bergdorf. Der Kirchturm und die Giebel der höheren Häuser waren im Nebel verschwunden, wie abgetrennt, nicht mehr Teil dieser Welt. Strasse und Trottoir, aber auch der Felsen neben der Bäckerei lagen vom Nieselregen verfärbt.“

André ist Schweizer und lebt seit einigen Jahren in Berlin. Er hat den Wunsch, seiner deutschen Freundin Louise seine Heimat zu zeigen und mit ihr eine mehrtägige Wanderung in den Bergen zu machen. Minutiös hat er die Bergtour, die sie gemeinsam unternehmen wollen, vorbereitet, nichts dem Zufall überlassen. Die Wanderroute hat er genau studiert, die Zeit berechnet, damit sie ganz sicher rechtzeitig in der Berghütte ankommen, wo sie zu übernachten gedenken. Während den weiteren Tagen werden sie auch im Zelt biwakieren. Die Kondition haben sie bei ausgedehnten Wanderungen auf der Mecklenburgischen Seenplatte antrainiert. Da auch eine kurze Kletterpartie eingeplant ist, haben sie in der Kletterhalle ein Klettertraining absolviert und nach und nach den Schwierigkeitsgrad erhöht.

Nun ist das Paar im Hotel angelangt, André bereit für die Bergtour. Louise hingegen, ist schlecht gelaunt, denn das Wetter ist für alles andere geeignet, denn für eine mehrtägige Tour in den Alpen. Doch André besteht auf Aufbruch, Nieselregen und Nebel hin oder her. Sein ganzes Programm gerät sonst aus den Fugen und das wäre schade. Während André voll in seinem Element ist, trottet seine Freundin mit dem schweren Rucksack missmutig hinterher. André weiss, worauf es in der Natur und beim Wandern ankommt, denn er erinnert sich nur zu gut an die Zeit, als er Pfadfinder war, deshalb spart er auch nicht mit gutgemeinten Ratschlägen an seine Freundin.

„Die zähen Abenteuer als Jugendlicher, die er alle bestanden hatte, führten zu einem Selbstbild, zu einer Einstellung, die er noch heute besass: Kein Wanderweg der Welt konnte ihn, André besiegen! Wenn es sein musste, wurde er eine Maschine; nicht wegen seiner Kraft, die mittelmässig war, vielmehr wegen seines Willens.“

Erst am Tagesziel, einer Berghütte, taut Louise, dank dem Gespräch mit dem deutschen Hüttenwart, etwas auf. Jetzt ist es André, der den „Saisonnier“ am liebsten nach Hause schicken würde. Den wird er ganz bestimmt nicht fragen, wie sich das Wetter entwickeln wird.

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Die Welt sieht am folgenden Morgen ganz anders aus, als endlich die Sonne scheint. Für eine Weile scheint auch für André und Louise alles in Ordnung zu sein. Doch unterschwellig gärt es, jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt, wohl auch mit Zweifeln, was die Bergtour, die Beziehung betrifft. Das Ziel ist nah, die Besteigung des Gipfels steht bevor, als Louise sich entscheidet, die Übung abzubrechen. André kann es kaum fassen, ist aber keineswegs bereit, seine Freundin beim Abstieg zu begleiten – nicht so kurz vor dem Ziel. Er entscheidet sich, den Aufstieg ohne Louise durchzuziehen. Allein und auf sich gestellt, hat er viel Zeit, nachzudenken, sich einsam zu fühlen, wütend auf seine Freundin zu sein, die ihn kläglich im Stich gelassen hat, sie trotzdem zu vermissen, in Selbstmitleid zu zerfliessen.

„Bei Louise wusste er nie, woran er war. Gerne hielt sie Dinge im Geheimen, brütete Vorhaben aus und rückte erst spät damit heraus. So hatte sie ihm nicht zu Beginn ihrer Beziehung erzählt, dass Louise nicht ihr richtiger Name war, sondern erst viel Monate später. […] Er hatte damals gleich gedacht, dass ihr Verhalten von geringem Selbstvertrauen zeuge oder sogar krankhaft sei. Heute noch konnte er nicht verstehen, dass sie ihm ihren richtigen Namen nicht früher gesagt hatte. Noch heute ärgerte er sich darüber.“

„Niedergang“ habe ich zu einem Zeitpunkt gelesen, als wir selber Bergwanderungen unternahmen. Es war einfach, sich in Roman Grafs Figuren hineinzudenken, was das Wandern betrifft. Die Stimmung kann leicht kippen, wenn das Wetter schlecht gelaunt ist. Und welche Euphorie, wenn man am Ziel ist und ein herrliches Bergpanorama in gleissendem Sonnenschein vor sich hat. Vergessen sind alle Strapazen und die Müdigkeit. Doch wenn die Beziehung einen Knick abbekommen hat, können tagelange Wanderungen im Gebirge zum Alptraum werden. Das Schweigen des anderen erschlägt einem wie herabstürzende Felsen. Während den stundenlangen Märschen bekommen die Gedanken Beine und wandern ebenfalls. Der Autor hat die geladene Atmosphäre, die zwischen dem Paar herrscht, sehr präzise beschrieben. André geht einem auf die Nerven mit seinen Pfadfinderweisheiten. Er weicht auch keinen Zentimeter von seinem Plan ab. Was sein muss, muss sein. In Gedanken kritisiert er jeden, nur seine eigenen Fehler sieht er dabei nicht. Louise hingegen entwickelt sich weiter – weg von André – und geht ihren eigenen Weg. Obwohl zwei Menschen „nur“ auf einer Wanderung in die Höhe steigen, wird die Geschichte keinen Moment langweilig. Im Gegenteil, man ist gespannt, was sich zwischen den beiden als nächstes ereignet. Das Buch lässt sich süffig weglesen.

Roman Graf „Niedergang“
Verlag Knaus
erschienen 2013
ISBN 978-3-8135-0566-5