
Manchmal lohnt es sich, in Verlagsprogrammen zu stöbern. Rein zufällig bin ich auf den Lilienfeld Verlag, Düsseldorf, gestossen, der es sich in der Reihe „Lilienfeldiana“ zur Aufgabe gemacht hat, „seltene literarische Entdeckungen“ (Zitat) in schöner Ausführung, zu präsentieren. Dadurch habe ich den Roman „Silbermann“ von Jacques de Lacretelle, aus dem Jahre 1922 entdeckt. Jacques de Lacretelle ist im deutschsprachigen kaum bekannt und er ist eine Entdeckung wert.
Worum geht es?
Wir befinden uns im Paris, der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Ich-Erzähler geht in die 3. Klasse des Lycée. Ein neuer Schüler kommt nach den langen Sommerferien in die Klasse, David Silbermann. Er hat eine Klasse übersprungen. Er ist so sehr von sich überzeugt, dass er den Schülern, die glauben, er sei bei ihnen bald wieder weg, eine Wette anbietet. Er behauptet, dass er bis Weihnachten mindestens in zwei Fächern Klassenerster sein werde.
Der Ich-Erzähler, er hat keinen Namen, ist von Silbermann fasziniert und beobachtet ihn heimlich während des Unterrichts. David ist so ganz anders als er. Eines Tages trifft er ihn rein zufällig auf der Strasse. Silbermann ist fast schon erstaunt, als ihn sein Klassenkamerad grüsst. Als er ihm später erklärt, warum er sich eher zurückhält, wird klar weshalb: „Weil ich Jude bin“.
Sein Kamerad schwört ihm, dass dies keine Bedeutung für ihn hat. Er schreibt ihm einen Brief und versichert ihm seine Freundschaft. So kommt es, dass die beiden Jungen immer mehr Zeit miteinander verbringen. Silbermann stellt ihn auch den Eltern vor, die sehr offen und herzlich auf Davids Freund zugehen. Das Haus der Silbermanns ist so ganz anders. Voll von wertvollen Möbeln und Antiquitäten. David, ein grosser Freund der Literatur und des Theaters ist sofort bereit, seinem neuen Freund alle Bücher auszuleihen, die dieser wünscht. Er erklärt ihm sehr viel und rezitiert aus französischen Klassikern wie Hugo, Chateaubriand, Racine und vielen mehr. Er bringt ihm eine Welt der Bücher näher, wie sie sein Freund vorher nicht gekannt hat.
In der Schule nehmen die Hänseleien gegenüber Silbermann zu. Auch der bisher beste Freund des Ich-Erzähler, Philippe Robin, macht mit und stellt seinen Freund vor die Wahl: „Entweder ich oder er.“
Die Entscheidung fällt für Silbermann aus. Die beiden Schüler werden unzertrennlich. Oft muss der Freund hilflos zusehen, wie Silbermann in der Pause oder nach der Schule verprügelt wird. Juden sind nicht erwünscht, das wird den Jungen aus dem Umfeld einiger Eltern eingetrichtert. Somit müssen sich Silbermann und sein Freund selber genügen und isolieren sich immer mehr von den Anderen.
Als schliesslich Silbermanns Vater, ein Antiquitätenhändler, in krumme Geschäfte verwickelt zu sein scheint und sogar eine Anzeige beim Staatsanwalt eingeht, spitzt sich die Lage zu. Silbermann ist verzweifelt und bittet seinen Freund, dass dieser mit seinem Vater, der Untersuchungsrichter ist, spricht und ihm klarmachen soll, dass Herr Silbermann unschuldig ist. Ausgerechnet, der Vater will von allem nichts wissen, darf nichts wissen, denn er ist der leitende Untersuchungsrichter im Fall Silbermann.
Der Umgang zu David Silbermann wird dem Ich-Erzähler von seinen Eltern untersagt.
Schliesslich geht Silbermann von der Schule ab, Briefe beantwortet er nicht. So stellt sich sein Freund vors Haus, bis er David nochmals sehen kann. Dieser berichtet ihm, dass er nach Amerika zu seinem Onkel fahren und nie mehr zurückkehren wird. Er redet sich in Rage und hält einen Vortrag über die Juden, die Vorurteile gegenüber seinem Volk und erklärt seinem Freund, dass sie eigentlich allen überlegen seien. Sein Freund bleibt sprach- und ratlos zurück.
Jacques de Lacretelle hat einen Roman geschrieben, der in Frankreich oft als Schullektüre verwendet wird. Die Geschichte ist ein Plädoyer gegen den Antisemitismus und guter Anschauungsunterricht, wie grausam Mitschüler mit ihren Kameraden umgehen können. Die Sprache ist sehr klassisch und schön zu lesen. David Silbermann macht es dem Leser nicht einfach, ihn zu mögen. Denn er zeigt sich gegenüber nicht ganz so intelligenten Schülern, wie er es ist, sehr hochnäsig. So verspielt er auch deren Sympathie und sie schlagen sich auf die Seite der Mobber. Auch seinem Freund fällt auf, dass eines seiner Lieblingsworte „Intelligenz“ ist. Auch er gehört eher zu den mittelguten Schülern. Er steht jedoch bedingungslos zu Silbermann. Aber als dieser nicht mehr da ist, hat es keinen Sinn mehr, sich auszugrenzen und er muss sich wieder an jene Kameraden halten, die noch da sind. Irgendwann ist Silbermann sowieso vergessen und kein Gesprächsthema mehr. Das Leben geht wieder seinen gewohnten Lauf, jedoch hat der Ich-Erzähler in der Zeit mit David Silbermann viel gelernt, nicht nur über die Juden, das Anderssein, die Literatur, sondern auch über seine Eltern, Charakter und Moral und vor allem Toleranz.
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