Der singende Stewart O’Nan

Wenn der amerikanische Autor Stewart O’Nan den Raum betritt kommt fast alleine Heiterkeit auf. Die Moderation wird praktisch überflüssig, denn Stewart O’Nan ist einer, dem man nicht jedes Wort aus der Nase ziehen muss. Er ist offen und ausgesprochen witzig. Das ist von Anfang an ein gutes Zeichen für die Lesung.

Die Leiterin des Literaturhauses Zürich stellt den Autor vor, der die neue Saison eröffnet und weist darauf hin, dass im neuen Roman „Die Chance“, im Original „The Odds“ der Song von Dinah Washington „Wheel of fortune“, dessen Text am Anfang des Buches abgedruckt ist, so passend ist. Sie klaubt ihr Iphone hervor und ist sich ziemlich sicher, dass das Abspielen des Titels nicht klappen wird. Aber dann ertönt das Lied über das Mikrophon und erntet von Stewart O’Nan und dem Publikum Applaus. Die Einführung hätte nicht besser sein können.

Literaturhaus

Literaturhaus_1

Erst einmal erklärt der Autor, worum es sich im Roman handelt:

Marion und Art, ein Ehepaar anfangs fünfzig und seit dreissig Jahren verheiratet stehen vor den Scherben ihrer Ehe, nicht zuletzt durch einen Seitensprung von Art mit einer um etliche Jahren jüngeren Arbeitskollegin, den Marion ihm nicht verzeihen kann. Das Pikante dabei ist, dass auch Marion eine Beziehung und zwar mit einer Frau hatte, wovon Art allerdings nichts weiss. Das Paar ist seit einer Weile arbeitslos, wegstrukturiert vom amerikanischen Arbeitsmarkt und mit dem grossen Haus inzwischen hoffnungslos verschuldet. Mit anderen Worten – sie sind pleite.

Mit den letzten Dollars begeben sie sich mit dem Bus zu den Niagara Falls, eine Valentinstag-Pauschalreise, um auf der kanadischen Seite ihr Glück im Kasino zu versuchen. Sie haben nichts zu verlieren. Am Tag ist Sightseeing angesagt, es wird gegessen, zu viel Alkohol getrunken und sie haben Sex miteinander, der auch nicht mehr der Knaller ist. Nachts aber rollt die Kugel beim Roulette, das Adrenalin steigt. Art, einst in der Versicherungsbranche tätig, hat eine totsichere Strategie entwickelt wie er glaubt. Er will nicht nur den grossen Gewinn im Spiel machen, sondern auch Marion für sich zurückgewinnen.

Dies die kurze Inhaltsangabe zum neuen Roman von Stewart O’Nan, der wie der Moderator Thomas Bodmer meinte, ein Meister darin ist, wenn es darum geht, das Leben der Amerikaner zu beschreiben. O’Nan liest schliesslich aus einem Kapitel vor und die Schauspielerin Miriam Japp fährt danach mit der deutschen Übersetzung weiter.

Literaturhaus_2

Es bereitet grosses Vergnügen, dem Autor zuzuhören, denn er gestikuliert mit den Händen, erhebt je nachdem die Stimme und als er die Szene liest, an dem Marion und Art ein Konzert der Band „Heart“ besucht, singt er auch noch die Passagen der Songs. Wäre er nicht Schriftsteller, er könnte glatt in einer Band als Leadsänger anheuern.

Er fragt ins Publikum, wer denn die Gruppe „Heart“ kenne, die in den 1970er-Jahren in den USA sehr bekannt war. Es hoben gerade mal drei Personen die Hände. Im Nachhinein stellte ich fest, dass auch ich die Band kenne, was ich beim Titel „Barracuda“ vermutete und bei Youtube bestätigt bekam. Hier der Song von „Heart“:

Wer noch einen kleinen Eindruck von Stewart O’Nans Gesangseinlage während der Lesung erhalten möchte, hier ein kleiner Ausschnitt:

Nach der Lesung stellte Thomas Bodmer dem Autor einige Fragen. Stewart O’Nan wurde in Pittsburgh geboren und wuchs in dieser Industriestadt auf. Heute ist die Einwohnerzahl stark zurückgegangen, nicht zuletzt, da die Autoindustrie komplett zusammengebrochen ist und viele junge Menschen keine Arbeit mehr finden. Stewart O’Nan hingegen ist mit seiner Familie in die Stadt zurückgekehrt, weil es so viele leere Häuser zur Auswahl gab, wie er frotzelte. Aber ehrlich gesagt, sei er auch der einzige der Familie gewesen, der je weggezogen sei. Er erzählte wie es ihm nach wie vor grossen Spass mache zu schreiben. Klar gäbe es Momente, wo es vielleicht mühsam sei an einem Buch zu arbeiten, wenn man nicht weiter wisse, aber seine Arbeit sei wirklich toll und er strahlte über das ganze Gesicht.

Thomas Bodmer fragte den Autor, ob er denn auch Ferien mache. Ja, klar. Nur, während seine Familie im Freien sei, verbringe er die Zeit drinnen – Fenster und Türen zu und im stillen Kämmerlein wird geschrieben. Wenn er dann endlich fertig sei, dann stelle er immer fest, wie die Welt meist schöner und bunter sei, als in seinen Büchern.

Eine Zuhörerin meinte, dass sie mit den Figuren im neuen Roman nicht wirklich warm geworden sei. Sie strahlten Kälte aus. Und O’Nan entschuldigte sich, das täte ihm leid. Er schaute ins Publikum und meinte, der Leser habe immer recht. Ein anderer Zuhörer, wohl der Ehemann der erwähnten Zuhörerin, ritt auf Satzdetails herum, was wir dann doch etwas anstrengend fanden.

O’Nan machte uns auf den Geburtstag von Lew Tolstoi aufmerksam und zollte diesem grossen russischen Schriftsteller seine Hochachtung, vor allem von „Anna Karenina“ ist er begeistert. Er sieht bei Tolstoi, dass jede seiner Figuren zur rechten Zeit am rechten Ort platziert wurde und sei deren Part auch noch so klein. Er selber legt für seine Protagonisten Notizhefte an und setzt dann Szene um Szene zu einem Ganzen zusammen. Manchmal würden sich die Charaktere aber auch ganz anders entwickeln als er geplant habe, aber das mache das Ganze auch wieder sehr interessant und überrasche ihn manchmal selber.

Für den Roman „Die Chance“ reiste er mit seiner Frau nach Niagara Falls und stieg ebenso wie Marion und Art in seinem Roman, in einem Hotel mit Casino ab. Er wollte sich ein genaues Bild vor Ort machen. Stewart O’Nan gab tolle Einblicke in seine Arbeit

Die Zeit verflog im Nu. Bei einem Apéro konnte weiter diskutiert und es konnten Bücher gekauft werden. Ich liess es mir nicht nehmen, meine mitgebrachten Bücher signieren zu lassen und er schrieb doch tatsächlich in jedes Buch etwas anderes hinein. Er nahm sich viel Zeit für seine Leser.

Diese Lesung war bereits ein erstes Highlight des Literatur-Herbstes 2014 und wer die Möglichkeit hat, sollte sich eine Lesung dieses Autors nicht entgehen lassen und sonst mindestens eines seiner Bücher lesen, allen voran „Emily, allein“, das so einfühlend geschrieben ist oder „Die Chance“ und und und …

Emily, allein

Emily, allein

Emily, eine ältere Dame, lebt allein mit ihrem alten Hund Rufus, in ihrem Haus in Pittsburgh. Ihre beiden Kinder sind längst erwachsen und haben ihre eigenen Familien. Ihr Mann Henry ist vor sieben Jahren gestorben. Seit sie einen kleinen Autounfall hatte, setzt sie sich nicht mehr ans Steuer ihres Autos. Zum Einkauf lässt sie sich von ihrer Schwägerin Arlene chauffieren, die aber auch schon fitter hinter dem Steuer sass. Alles geht etwas langsamer und auch unsicherer. Hin und wieder fahren sie in den Club, trinken Kaffee zusammen, am Sonntag gehen die beiden Frauen in die Kirche oder sie treffen sich zum Essen. Ihr bevorzugtes Restaurant ist das Eat ’n Park, auch an diesem Tag, an dem das Leben für Emily eine Wende nimmt. Ihre Schwägerin bricht am Buffet vor ihren Augen zusammen. Sie wird in die Klinik gebracht und gleich dort behalten, um gründlich durchgecheckt zu werden.

Emily wird nun von Arlene gebraucht. Die Fische im Aquarium müssen gefüttert werden, die Schwägerin benötigt frische Wäsche und vor allem, muss Arlenes Auto nach Hause gebracht werden. Erst noch etwas unsicher chauffiert Emily das Auto nach Hause. Doch das ändert sich rasch, denn schon bald steht sie in der eigenen Garage und setzt, mit Hilfe ihrer Nachbarin, den alten Oldsmobile, der viel zu gross für sie ist, in Gang und bald ist sie mit ihrem eigenen Wagen wieder auf der Strasse. Alles lässt sich einfacher und schneller bewältigen, als immer das Taxi nehmen zu müssen. Ihr Tag ist voll bepackt mit all den Tätigkeiten für sich, Arlene und ihren Hund Rufus, der auch merkt, dass etwas anders ist und nicht mehr alles nur nach ihm geht.

„Jeden Abend versuchte sie zu lesen, doch sie hatte den Geschmack von Zahnpasta im Mund, und ihre Gedanken waren rastlos und beschäftigten sich mit all den kleinen Arbeiten und Besorgungen, die unerledigt geblieben waren.“

Mit der Zeit muss Emily einsehen, dass das alte Auto einfach nicht mehr passt und sie legt sich einen Subaru zu. Nach Arlenes Entlassung aus dem Krankenhaus, tauschen sie einstweilen die Rolle des Chauffeurs. Der Alltag pendelt sich wieder ein und sie ist froh, wieder mehr Zeit für sich und ihren eigenen Haushalt zu haben.

Ich begleite Emily bei ihren alltäglichen Tätigkeiten, sehe durch ihr Fenster, wie sie mit ihrer Familie telefoniert und tief in ihrem Innern enttäuscht ist, dass sie Thanksgiving ohne ihre Familie verbringen muss. Sie bereitet Weihnachten vor und hofft, dass die Tochter mit den Kindern zu ihr kommt.

„Zuerst nahm sie sich die Karten an die Enkelkinder vor, fügte Alles Liebe, Grandma zu den gedruckten Grüssen hinzu und war sofort bestürzt über ihre Handschrift. Seit sie in der sechsten Klasse bei einem Schönheitswettbewerb eine Gipsbüste von Shakespeare gewonnen hatte, rühmte sie sich ihrer Schreibschrift. Aber in den letzten Jahren war ihre Schrift unleserlich geworden, ihre Hand zittrig, als litte sie an einer Nervenkrankheit.“

Emily erinnert sich an ihre Jugend, als sie noch unverheiratet und bei den Eltern lebte, schaut sich die Fotoalben an, sinniert über ihre Ehe mit Henry nach und macht sich Gedanken über ihre Kinder und Enkelkinder. Sie will ihren Nachlass geregelt haben, freut sich, wenn ihre Familie sie an Weihnachten und Ostern besuchen kommt. So gerne wie sie ihre Leute um sich hat, ist sie sich in all den Jahren des Alleinseins doch an einen eigenen Rhythmus gewöhnt und ist immer wieder froh, wenn sie sich nur noch um sich und Rufus kümmern muss, sich klassische Konzerte im Radio anhören und ein Buch lesen kann.

Immer mehr häufen sich Todesanzeigen von Freunden und Bekannten und Arlene und Emily fahren zu den Beerdigungen.

„Wie jeder Todesfall in ihrem Bekanntenkreis brachte auch dieser Emily ihrem eigenen Tod näher, als wären sie alle um einen Platz aufgerückt.“

Die Jahreszeiten vergehen, nach dem Herbst kommt der Winter, dann das Frühjahr, in dem Emily die Gartenarbeit wieder aufnimmt. Der Sommer zieht ins Land und Emily freut sich auf den Urlaub an dem Ort, wo sie mit der Familie immer hingefahren ist.

Stewart O’Nan legt mit „Emily, allein“ ein ruhiges und unaufgeregtes Buch vor, das ich mit viel Freude gelesen habe. Sehr einfühlsam und mit einer grossartigen Beobachtungsgabe erzählt er aus dem Leben dieser alten Frau, die in einer mittelgrossen Stadt in Amerikas Nordosten lebt. Einer Frau, wie es sie auch an anderen Orten gibt und die sich als Mutter auch im Alter noch Sorgen um ihre Familie macht. Die sich um ihre Rüstigkeit sorgt, sich Gedanken über verpasste Chancen und gelebte Momente macht, in ihren Erinnerungen kramt und froh ist um ihren treuen Hund Rufus, der gemeinsam mit ihr älter wird. Und so ziehe ich mich zurück, verlasse meinen Beobachtungsposten und hoffe, dass es Emily noch lange gut gehen mag und sich die Menschen rundherum kümmern, damit Emily, die zwar allein ist, niemals einsam sein wird.

Stewart O’Nan: „Emily, allein“
Verlag Rohwohlt
ISBN 978-3-498-05039-9