Offener Brief an John Williams

Lieber John Williams

Ich muss gestehen, dass ich, bevor ich Ihren Roman „Stoner“ in die Finger bekam, Ihren Namen nicht gekannt habe. Auf der einen Seite bin ich unendlich dankbar, dass Ihr Buch, das erstmals 1965 veröffentlicht wurde, nun auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, und wie ich betonen möchte, in einer ausgezeichneten. Gleichzeitig muss ich Ihnen gestehen, dass mich „Stoner“ dermassen begeistert hat, dass ich seither noch kein weiteres Buch richtig begonnen habe. Ihr Roman hat mich quasi aus der Lesebahn entgleisen lassen.

Die Geschichte hat mich mitgerissen, mein Herz berührt und erwärmt. Es ist lange her, dass mich ein Buch dermassen begeistert hat wie das Ihre. Manche würden sagen, dass ich sicher nicht richtig ticke, schliesslich gibt es Bücher wie Sand am Meer und von einem Buch so hin und weg zu sein, das kann doch gar nicht sein. Nun für mich ist es eben so. Sie haben genau die Art zu schreiben, die ich mag. Ähnlich fasziniert war ich von John Steinbeck oder Sherwood Anderson, wenn Sie mir diesen Vergleich erlauben.

Irgendwie kann ich es kaum glauben, dass „Stoner“ vor fast fünfzig Jahren keinen grossen Erfolg hatte. Schade können Sie nicht mehr erleben, wie die Leser von diesem Roman begeistert sind. Wir sprechen hier nicht von einem Action-Roman, eigentlich passiert überhaupt nichts, der Leser begleitet einfach einen bescheidenen Literatur-professor durch sein Leben. Allerdings gestaltete sich dieses ziemlich mühsam, hatte er sich doch in die falsche Frau verliebt und das seltsame Geschöpf auch noch geheiratet. Sie liess seinen Alltag zur Hölle werden, wenn er zu Hause war.

„Nach einem Monat wusste er, dass seine Ehe scheitern würde, nach einem Jahr hoffte er nicht mehr darauf, dass es je besser werden würde. Er lernte, mit der Stille zu leben und nicht auf seiner Liebe zu beharren.“

Selbst das gemeinsame Kind, das er über alle Massen liebte, entzog und entfremdete sie ihm. Nur kurze Zeit fand er die grosse Liebe seines Lebens. Aber Stoner lebte in der falschen Epoche des 20. Jahrhunderts. Ich hoffe doch sehr, dass er heute seine Bücher zusammenraffen und mit seiner Geliebten abhauen würde.

„In seinem dreiundvierzigsten Jahr erfuhr Williams Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.“

stoner

Auch an der Uni gab es einige Plagegeister. Ein Vorgesetzter schien ihn wirklich zu hassen und schikanierte ihn wo er nur konnte. Heute würde man dies Mobbing nennen. Ich glaube, wenn Stoner seine Literatur nicht gehabt hätte, er wäre am Leben zerbrochen. Doch jede Demütigung und jede Schikane ertrug er und behielt bis zum letzten Tag seines Lebens seine Würde. Für mich ist Stoner ein wahrer Held und ich habe Tränen vergossen, als ich das Ende der Geschichte kannte, so sehr war ich berührt. Und die eine oder andere Träne floss sicherlich auch, weil ich den Buchdeckel definitiv schliessen und Stoner gehen lassen musste. Im Moment will ich es noch immer nicht wahrhaben.

„Er wusste, nach und nach würde das kleine Zimmer, in dem er nun lag und aus dem Fenster sah, seine ganze Welt werden; schon jetzt konnte er undeutlich einen ersten Schmerz fühlen, der sich wie ein alter Freund aus grosser Ferne zurückmeldete.“

Stilistisch auf der ganzen Linie umwerfend, die Einfühlsamkeit, das Ungesagte zwischen den Zeilen und die Phantasie, die den Leser zum Nachdenken anregt ist einfach ganz grosse Literatur!

Haben Sie herzlichen Dank für dieses wunderbare Geschenk, das ich in meinem Herzen als ganz besonderen Schatz bewahren werde!