Die Unermesslichkeit

Mit Spannung habe ich auf das zweite Buch des amerikanischen Schriftstellers David Vann gewartet. „Die Unermesslichkeit“ bei Suhrkamp erschienen und von Miriam Mandelkow ins Deutsche übersetzt, spielt erneut in Alaska. Im Original ist der Roman unter „Caribou Island“ erhältlich.

Irene und Gary sind beide fünfundfünfzig Jahre alt und frühpensioniert. Die beiden sind seit dreissig Jahren miteinander verheiratet und ihre Ehe steckt in einer Krise. Die Beziehung ist am Bröckeln. Gary hat sich in den Kopf gesetzt, auf Caribou Island eine Blockhütte zu bauen, um dort zu leben. Seine Frau soll ihm bei seinem ehrgeizigen Projekt zur Hand gehen und die gemeinsame Arbeit am Haus, sie einander wieder näher bringen. Er sieht das Bild schon klar vor sich, wie er im Schaukelstuhl am offenen Kamin sitzt und eine Pfeife raucht, umgeben von Tierfellen und anderen Trouvaillen der Natur.

Irene willigt eher widerwillig ein, Gary zu helfen. Sie ist skeptisch und vom Plan ihres Mannes überhaupt nicht überzeugt, gar manches Projekt hat er angefangen und resigniert wieder in den Sand gesetzt. Es ist schon spät im nordischen Sommer, als sie eine Bootsladung Material um die andere auf die Insel bringen. Beim Abstecken des Hausgrundrisses von gerade einmal vier Mal fünf Metern, stellt Irene ihrem Mann doch einige elementare Fragen, wie die Toilette aussehen soll und wo sie schlafen werden usw.

„Irene begriff in einem einzigen Schreckensmoment, dass sie tatsächlich hier draussen wohnen würden. Die Hütte würde nicht richtig hinhauen. Sie würde nicht das nötigste bieten. Trotzdem würden sie hier wohnen.“

Parallel zur Geschichte von Irene und Gary wird auch die Beziehung ihrer Tochter Rhoda zu ihrem Freund Jim erzählt. Rhoda ist so etwas wie die Pufferzone zwischen ihren Eltern und versucht immer wieder zu vermitteln. In ihrem Bruder Mark hat sie keine grosse Hilfe, der ist froh, wenn er nichts mit der Familie zu tun hat. Rhoda ist nach ihrer zweijährigen Beziehung bereit für die Hochzeit und wälzt schon Hochzeitskataloge. In ihrer Sorge um ihre Eltern gehen ihre Sensoren, was ihren Freund betrifft, nicht verloren. So registriert sie, dass sich Jim in letzter Zeit sehr seltsam verhält. Sich auch um ihre Beziehung Sorge zu machen, hat sie allen Grund, denn Jim rennt hinter einer jungen Frau her und denkt nur noch an eines – Sex.

Das Projekt des Blockhüttenbaus wird durch Irenes plötzlich auftretende Kopfschmerzen überschattet. Sie leidet so sehr und kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Stärkste Schmerzmittel, die ihr Rhoda zuerst aus der Tierpraxis (!) besorgt, wo sie arbeitet und danach von Jim, der Zahnarzt ist, erhält, nützen nichts, um sie von den Qualen zu befreien. Abklärungen beim Spezialisten verlaufen negativ. Ist der Schmerz gar psychisch? Irene lässt die vergangenen Jahre Revue passieren, beginnt auch ihre eigene Kindheit zu durchleuchten. Ihr Leiden belastet die fragile Beziehung zusätzlich. Irene und Gary beginnen, verbal, mit harten Bandagen zu kämpfen. Nicht die Bären sind die Gefahr auf der Insel, sondern die gegenseitigen Beleidigungen und Anschuldigungen, die viel schlimmere Wunden hinterlassen. Das Glas hat Risse bekommen und ist kurz vor dem Zerspringen.

„Es ging Irene gegen den Strich, dass sie sich dreissig Jahre lang um diesen Mann hatte kümmern müssen. Die Last seiner Klagen und seiner Unduldsamkeit, sein Versagen und, im Gegenzug seine Unnahbarkeit. Wieso war ihr irgendetwas davon annehmbar erschienen?“

Überwinden Irene und Gary die Ehekrise und kommen sie sich wieder näher? Schafft es Rhoda, als Vermittlerin zwischen ihren Eltern, sie von dieser irrwitzigen Idee, auf Caribou Island leben zu wollen, abzubringen?

David Vann, der in Alaska geboren wurde, schafft es erneut, den Leser, von der ersten Seite an, zu fesseln. Wer bereits „Im Schatten des Vaters“ gelesen hat, kann sich vorstellen, dass ihn auch im neuen Roman einiges erwarten wird. Der Autor dringt tief ins Innerste seiner Figuren vor und lässt den Leser nach der Lektüre nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Für Diskussionsstoff ist auch mit „Die Unermesslichkeit“ gesorgt und wenn man das Buch zuklappt, fängt es in einem erst einmal an zu rotieren, wie könnte sich die Geschichte weiterentwickeln? Denn Gedanken nach diesem Lesestoff macht man sich auf alle Fälle. Mir erging es jedenfalls so.