Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse

Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer SchickseMordechai Wolkenbruch, schlicht Motti genannt, ist fünfundzwanzig Jahre alt und orthodoxer Jude. Seine Mutter führt in der Familie das Regiment und befindet, dass es Zeit wäre, dass auch ihr Jüngster endlich heiraten sollte. Heiratswillige jüdische Kandidatinnen gibt es genügend und gar manches Treffen mit anderen Müttern und ihren Töchtern finden nicht ganz zufällig statt. Doch die Frauen, die Mottis Mame für ihren Sohn aussucht, entsprechen nicht ganz den Vorstellungen des Wirtschaftsstudenten. Die meisten sehen aus wie seine Mutter und haben ein gut geöltes Mundwerk wie sie.

Motti hat längst eine Frau ins Visier genommen. Sie sitzt wie er in den gleichen Vorlesungen an der Universität. Da die junge Frau ihm ausserordentlich gut gefällt, vor allem ihr tuches (Hintern), wird er ein regelmässiger Besucher der Vorlesungen. Ein Haken hat das Ganze: Laura, so der Name der Angebeteten, ist Nichtjüdin und Motti getraut sich nicht, sie anzusprechen. Er hat keinerlei Erfahrungen mit Frauen, schliesslich werden die Begegnungen mit ihnen, in seinem jüdischen Alltag ständig von seiner Mutter organisiert.

„Sofort fühlte ich mich sejer schlecht, auf mehreren Ebenen; als hätte ich ein Kilo milchikes mit einem Kilo fleischike vermengt und in einem Bissen heruntergewürgt. Mir gefiel diese Laura unsäglich. Doch allein schon der Tatsache, dass sie hojsn trug – wohlgemerkt auffalend sportlich geschnittene -, war zu entnehmen, dass es sich bei dieser froj um eine schikse handelte; auch ihr unjüdischer Name verriet, dass sie mit grosser Wahrscheinlichkeit regelmässig Schweine ass und am schabbes hemmungslos elektrsche Gerätschaften in Gang setzte. Dennoch empfand ich den Namen Laura als Wohlklang, und ich muss gestehen, dass sich die Achse meiner jiddischkajt an diesem frimorgn leicht verschob.“

Motti der bei seinem Vater, im Büro der Wolkenbruch Versicherungen, arbeitet, kommt öfters auch zu der alten Frau Silberzweig. Für die jüdische Gemeinde ist sie eine Hexe, da sie sich mit Karten legen beschäftigt. Auch für Motti legt sie die Karten, die ihm prophezeien, dass noch Einiges auf ihn zukommen werde.

„Jingele“, sagte Frau Silberzweig zärtlich und belustigt, „da warten spannende zajtn auf Sie! Oder auch nicht. Wer weiss schon, ob das Zeug da stimmt. Heisst zwar „treferaj“, aber ob es auch trifft …“ […]

„Herr Wolkenbruch, machen Sie nicht ein solches punem (Gesicht)! Es kommt alles gut. Es kommt immer alles gut. Kann ich Sie so gejn lassen?“
„Ich glaube schon“, sagte ich.
„Dann gehen Sie und leben Sie. Und besuchen Sie mich wieder mol.“

In Michèle findet er eine Verbündete. Zwar wäre sie für ihn eine ideale Ehefrau, wenn es nach den Müttern ginge, aber der Funken der Liebe springt bei ihnen nicht über. Sie mögen sich und beschliessen, sich für einige Zeit aus der Verkupplungsszene zu verabschieden und so zu tun, als ob. So verschaffen sie sich für einen Moment eine Verschnaufpause bevor die Braut- bzw. Bräutigamschau wieder weitergeht. Das kommt allerdings gar nicht gut an. Motti muss beim Rabbi vortraben und wird mit guten Ratschlägen eingedeckt, um alsbald zu seinem Onkel nach Israel geschickt zu werden.

Weit weg von der Mame, in äusserst liberaler Umgebung, erlebt er erstmals wie es sich anfühlt, nicht fremdbestimmt zu sein. Völlig verwandelt kehrt er von seiner Reise aus dem Nahen Osten zurück. Er beschliesst endlich sein eigenes Leben zu leben und nicht wie es seine Mutter für ihn vorgesehen hat. Auch äusserlich verändert, mit neuer Brille, von einem nichtjüdischen Optiker, und nach dessen Rat, mit gestutztem Bart, wechselt er, für die Vorlesungen an der Uni, die zu kurzen, schwarzen Hosen gegen Jeans. Was für eine Schande!

Erstmals wird er von seiner Umgebung wahr genommen, selbst Laura, seine Traumfrau, kommt ins Gespräch mit ihm, lädt ihn gar zur WG-Party ein und Motti hebt in den siebten Himmel ab. Endlich!

Auswärts übernachten geht hingegen gar nicht und seine Mame ist einer Ohnmacht nahe, nachdem er erst am nächsten Morgen zu Hause eintrifft. Die Mutter beschimpft seine Eroberung in wüsten Worten, während der Vater sich einmal mehr hinter seiner Zeitung versteckt und brenzlige Situationen höchstens mit einer spassigen Bemerkung zu entschärfen versucht. Mordechai Wolkenbruch muss sich entscheiden.

Thomas Meyer hat einen umwerfenden ersten Roman hingelegt, der umgehend für den Schweizer Buchpreis 2012 nominiert wurde. Das Buch ist in jiddisch-deutscher Sprache geschrieben und den jiddischen Ausdrücken musste ich immer wieder im Glossar hinterherhechten, denn viele Worte sind mir nicht geläufig. Ich könnte mir gut vorstellen, dass weitere Begriffe in unseren Sprachgebrauch Einzug halten, viele sind schon seit Jahrzehnten in Gebrauch, ohne dass uns bewusst ist, dass sie jidischer Herkunft sind. Der blizbrif für E-Mail gefällt mir bsp.weise sehr 😉

Der Roman kommt anfangs leichtfüssig daher und geht zu Herzen. Mit viel Humor wird das Leben der Familie Wolkenbruch und das Verhältnis zwischen Motti und seiner Mame geschildert. Die Situationen spulen sich wie ein Film vor meinem inneren Auge ab und tatsächlich soll das Buch auch verfilmt werden. Thomas Meyer arbeitet bereits am Drehbuch. Je weiter der Roman jedoch fortschreitet und je mehr sich Motti verändert, desto nachdenklicher stimmt mich das Geschehen. Es wird das Dilemma eines jungen Mannes aufgezeigt, der aus den traditionellen Strukturen seiner jüdischen Gemeinschaft ausbrechen möchte. Der junge Jude wünscht sich ein moderneres und vor allem selbstbestimmtes Leben. Seine zukünftige Frau möchte er selbst wählen können und in keine Ehegemeinschaft gezwungen werden. Seinen Entscheid durchzuziehen braucht Kraft, denn dabei helfen wird ihm niemand, er ist auf sich allein gestellt. Nur allzu leicht könnte es deshalb passieren, dass er von der Gemeinschaft, in der die Familie alles ist und wie von einem Kokon umhüllt wird, ausgeschlossen wird. Das ist ein hoher Preis, den er bezahlen müsste – und ob es den wert ist?

„Ein lebn lang hatte ich im glojbn gelebt, nur zwischen weissem Hemd eins, weissem Hemd zwej und weissem Hemd draj wählen zu können, und mir nie darüber gedankn gemacht. Nun mache ich mir welche. Farbige hemdn kamen darin vor. Und Jeans. Und Nichtjüdinnen in Jeans. Eine im Speziellen.“

Ein lesenswertes Buch, das nicht nur humorvoll ist, sondern auch nachdenklich stimmt. Ist ein modernes Leben möglich, ohne dass die Herkunft und Religion, die mit Traditionen und Regeln, die seit hunderten, ja tausenden von Jahren bestehen, verleugnet wird? Ein Stoff der zum Diskutieren einlädt.

Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Nach einem abgebrochenen Studium der Jurisprudenz arbeitete er als Texter in Werbeagenturen und als Reporter auf Redaktionen. Erste Beachtung als Autor erlangte er 1998 mit im Internet veröffentlichten Kolumnen. 2007 machte er sich selbstständig als Autor und Texter. Er lebt und arbeitet in Zürich.

Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse
Salis Verlag
288 Seiten
ISBN 978-3-905801-59-0

Besuchenswert ist auch die homepage des Autors
Interview und Video (Tages Anzeiger)
Jiddisch neu entdeckt (NZZ)

„Zürich liest“ 2012 – Die Schweizer Buchpreis Nominierten 2012

Am 11. November 2012 wird an der BuchBasel der Schweizer Buchpreis verliehen. Auf der Shortlist in diesem Jahr stehen Sibylle Berg, Ursula Fricker, Peter von Matt, Thomas Meyer und Alain Claude Sulzer.

Sie alle sollten am Freitagabend im Literaturhaus, anlässlich „Zürich liest“ aus ihren Romanen lesen und der Moderatorin Insa Wilke, Rede und Antwort stehen, über ihr Handwerk, Inspiration etc.

Sollten, denn einer von ihnen fehlte, Peter von Matt. Beatrice Stoll liess uns herzlich von ihm grüssen. Leider konnte er nicht kommen, da er längst, bevor er wusste, dass er auf der Shortlist landen würde, eine Verpflichtung angenommen hatte, die er nicht mehr absagen konnte.

Beatrice Stoll, Alain Claude Sulzer, Sibylle Berg

Sibylle Berg stellte sich als sehr witzige Teilnehmerin heraus und meinte, dass jetzt wohl alle wieder gehen würden, weil sowieso alle wegen Peter von Matt gekommen seien. Als ein Angestellter den Saal verliess, witzelte sie: „Seht ihr, der erste geht schon.“ Allgemeines Gelächter des Publikums. Überhaupt, Literatur ist nicht nur eine ernste Angelegenheit. Mit viel Witz ging es durch den Abend und schlagfertige Antworten kamen von den Autoren, so dass es viel zu lachen gab.

Insa Wilke (links) und Ursula Fricker (rechts)

Insa Wilke stellte nicht immer ganz einfache Fragen, so dass Thomas Meyer einmal meinte: “Müssen Sie so schwierige Fragen stellen?“ Worauf sie erwiderte: „Ich mache nur meine Arbeit. Sie haben ja selbst gesagt, dass Schreiben ein Handwerk sei.“

Thomas Meyer

Alain Claude Sulzer stellte sie unter anderem als Musiker vor, worauf er den Mund verzog und sagte: „Seit mich die Katze vor fünf Jahren ins Bein gebissen hat, mache ich keine Musik mehr.“ Aha, aber trotzdem wird er immer noch mit Musik in Verbindung gebracht.

Und dann kam eine Fragerunde, wie und wo denn geschrieben wird. Sibylle Berg antwortete ganz ernsthaft: „Ich setze mich nackt in die Badewanne und schreibe dort. Soll ich es gleich einmal vormachen?“

Insa Wilke suchte immer wieder Gemeinsamkeiten zwischen den vier Romanen und welchen Mangel die Autoren mit ihrem Roman abdecken wollten. Alain Claude Sulzer sagte darauf trocken: „Es bestand ein Mangel an diesem Buch.“ Und Sibylle Berg will immer noch die Menschen verbessern, alle sollen sich lieb haben und kuscheln. In erster Linie soll es darum gehen, ein Mensch zu sein und nicht ob einer männlich oder weiblich sei. Man stelle sich am Morgen auch nicht vor den Spiegel und sage sich beim Kämmen: „heute bin ich aber weiblich“.

Dann lasen alle aus ihren Romanen vor. Für den abwesenden Peter von Matt übernahm Beatrice Stoll, die Leiterin des Literaturhauses, diese Aufgabe gleich am Anfang des Abends. Jedes Buch ist anders, jeder der Autoren hätte es verdient, den Buchpreis zu gewinnen. Alain Claude Sulzer, der auch in der Jury beim Ingeborg Bachmann-Preis, in Klagenfurt, sass, sitzt jetzt als Autor auf der anderen Seite.

Der Abend hatte grossen Unterhaltungsfaktor und es war schön zu sehen, dass unter dem Publikum nicht nur ältere Personen und nur Frauen sassen – es waren auch jüngere Menschen und Männer auszumachen.

Anschliessend wurde ein Apéro serviert und es bestand die Möglichkeit, sich mit den Autoren zu unterhalten und ich lief in der Gegend herum, um mir die Bücher signieren zu lassen, denn die Schriftsteller/innen sassen nicht an einem gemeinsamen Tisch. Thomas Meyer sagte ich, dass ich mich auf sein Buch freue und er meinte „ich mich auch“. Verständlich, es ist sein erster Roman „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ und gleich auf der Shortlist. Das Buch ist speziell, da viele jiddische Ausdrücke vorkommen und irgendwann, während dem Schreiben hätte er nicht mehr unter Kontrolle gehabt, was sein Buch mit ihm anstelle. Das Buch habe die Kontrolle über ihn gehabt.

Ursula Fricker hatte den Daumen einbandagiert, deshalb fragte ich sie, neugierig wie ich bin, was denn passiert sei. Beim Späne machen, für den Holzofen, hackte sie sich in den Daumen. Autsch! Aber das abgespaltete Daumenstück konnte wieder angenäht werden. Die Bandage hindert sie nicht am Schreiben.

Voller wunderbarer Eindrücke kehrte ich, nach einem vollbepackten literarischen Freitag, nach Hause zurück.