Die Ich-Erzählerin schaut ihrem Nachbarn Ramón zu, wie er den Paradiesbaum in seinem Garten fällt. Sie hat vor kurzem ihren Vater verloren, der Ramóns bester Freund war. Ramón und der Verstorbene waren leidenschaftliche Gärtner, so erhält nun die Ich-Erzählerin gutgemeinte Ratschläge wie der Garten weiter zu pflegen sei. Umgekehrt schaut die Nachbarin auch mal zu Ramóns Haus, als dieser ins Krankenhaus muss Die kleinen Aufgaben und Gespräche lassen die Beiden den Verlust eines geliebten Menschen leichter verarbeiten. Sie gehen aufeinander zu, kümmern sich umeinander und sind füreinander da.
Die argentinische Schriftstellerin Ángela Pradelli hat mit „Das Haus des Vaters“ ein Buch geschrieben, das einen nicht traurig stimmt wie man vermuten könnte. Mir kommt es vor, als würde die Ich-Erzählerin einen Karton öffnen, alte Fotos vor mir ausbreiten und mir zu jedem Bild eine Geschichte erzählen. Dabei erinnert sie sich liebevoll an Erlebnisse mit ihrem verstorbenen Vater, so zum Beispiel als sie mit ihm einen Ausflug im neuen Auto ans Meer unternimmt und auf der Rückfahrt ein Lieferwagen in das Auto kracht. Der Vater macht kein grosses Drama um den beschädigten Wagen, fährt die Nacht durch, mit der Tochter an seiner Seite, mit der er sich in der Dunkelheit unterhält.
„Obwohl wir später selten darüber sprachen, wurde meine Erinnerung an diese Tage am Meer und dieses Glück mit den Jahren sogar stärker, wenngleich ich im tiefsten Inneren immer wusste, dass all das nichts Grosses bedeutete, letzten Endes waren wir ja nur Vater und Tochter, auf dem Weg zurück nach Hause, in einem kaputten Auto.“
Den Gegenständen im Haus des Vaters ordnet sie Geschichten zu: einem Mantel, dem Spazierstock, der Uhr, die stehen geblieben ist. Es sind Momente, in denen die Ich-Erzählerin inne hält und zurückblickt.
„Vielleicht sollte ich Ramón den Herrenmantel jetzt schenken, aber ich weiss nicht, ich hadere noch damit. Letzten Winter, der erste ohne meinen Vater, habe ich ihn machmals als Decke benutzt. In kalten Nächten schlafe ich gern dick zugedeckt. Als ich morgens aufwachte, lag in der Luft der Geruch meines Vaters, der noch immer am Futter haftet – eine Mischung aus Wolle, Naphtalin und Rasiercrème. Derselbe Geruch wie in dem Kleiderschrank, in dem ich den Mantel aufbewahre.“
Das Kapitel „Schauspieler“ lässt mich schmunzeln, denn die beiden alten Herren entpuppen sich beim Bezug ihrer Rente als gute Schauspieler. Um nicht stundenlang vor der Bank Schlange stehen zu müssen, hinkt der Vater mit einem Spazierstock auf die Bank zu, während Ramón ihn stützt. Türsteher und Schalterbeamte tricksen sie so mit ihrer Inszenierung aus und sie amüsieren sich darüber köstlich.
Keines der Kapitel ist länger als zwei bis vier Seiten. Unaufgeregt kommt eine Episode zur anderen und einzelne Momentaufnahmen ergänzen sich zu einem Album. Erstaunt hat mich bei der Lektüre, dass die Mutter kein einziges Mal erwähnt wird. Über sie verliert die Ich-Erzählerin kein Wort.
Einige Geschichten stimmen mich nachdenklich, die anderen lassen mich lächeln. Ángela Pradelli zeichnet auch ein Bild eines argentinischen Quartiers in einem Vorort von Buenos Aires, in dem Menschen verschiedenster Couleur aufeinandertreffen, wie dem Polen, der nichts Anderes möchte, als seine Geschichten loszuwerden oder einer Verrückten, die im Regen tanzt und die „Sintflut“ mit offenem Mund verschlingen will. Die Autorin zeigt mir mit diesem Buch auch einen Weg auf, wie man Abschied von einem lieben Menschen nehmen kann und ich finde, es ist ihr in einfühlsamer Weise gelungen, das mich etwas mit dem Tod versöhnt, mit dem wir alle irgendwann konfrontiert werden.
Ángela Pradelli wurde 1959 in Buenos Aires geboren. Sie schreibt Lyrik, Romane und Essays. Für „El lugar del padre“ wie der Roman im Original heisst, erhielt sie 2004 den Premio Clarín de Novela. Von Juni bis November 2012 war die Autorin Writer in Residence des Literaturhauses und der Stiftung PWG in Zürich.
Ángela Pradelli: Das Haus des Vaters
Erscheinungsjahr 2012
Rotpunktverlag
144 Seiten
ISBN 978-3-85869-512-3