Wovon wir träumten

Das Heimatland zu verlassen und ein neues Leben in einer fremden Kultur zu beginnen, stelle ich mir schwierig vor. Julie Otsuka, eine amerikanische Autorin, geboren 1972, mit japanischen Vorfahren, wie man unschwer an ihrem Familiennamen erkennen kann, hat einen Roman, über die wahre Geschichte einer Gruppe junger Japanerinnen geschrieben, die als sogenannte „picture brides“ anfangs des 20. Jahrhunderts nach  Kalifornien auswandern. Hier warten Japaner auf sie, die sie nur auf Fotos gesehen haben, die ihnen der Heiratsvermittler gezeigt hat. Wenige Briefe, die sie eine bessere Zukunft erhoffen lässt, haben ihnen die zukünftigen Ehemänner zuvor geschrieben.

Die jüngste unter ihnen ist gerade einmal zwölf Jahre alt und die älteste siebenunddreissig. Sie versprechen sich in Amerika ein Leben, das besser ist als an der Seite eines Bauern im Dorf – weit weg von der  beschwerlichen Arbeit auf den Reisfeldern. Die Frauen kommen aus allen Landesteilen und Schichten Japans. Ausser einigen Klischees haben sie kaum eine Ahnung vom fernen Kontinent. Auf der wochenlangen Überfahrt auf dem Zwischendeck des Schiffes, bleibt ihnen genügend Zeit, um sich über das Land und seine Bewohner auszutauschen und sich über die wartenden Männer zu unterhalten. Die Reise ist beschwerlich und sie haben mit Seekrankheit, Wanzen, Ratten und anderem Übel zu kämpfen.

Noch bevor das Schiff San Francisco erreicht, endet der Traum für die einen bereits jäh, denn sie lassen sich auf ein Verhältnis mit Matrosen ein, das nicht ohne Folgen bleibt und so stürzt sich die eine ins Meer, die andere versucht ihr Geheimnis zu vertuschen.

Das Ungewöhnliche an diesem Roman ist die Erzählweise, die die Autorin gewählt hat, denn sie lässt die Frauen im Kollektiv berichten, das heisst, es wird kein Einzelschicksal erzählt, sondern Momente aller Frauen:

„Einige von uns auf dem Schiff kamen aus Kyoto und waren zierlich und hübsch und hatten ihr gesamtes Leben in abgedunkelten Hinterhofzimmern gewohnt. Einige von uns kamen aus Nara und beteten dreimal täglich […] Einige von uns waren Bauerntöchter aus Yamaguchi, mit kräftigen Handgelenken und breiten Schultern […]. Einige von uns kamen aus Tokio und hatten schon alles gesehen und sprachen ein wunderschönes Japanisch […]“

In San Francisco nehmen die Männer ihre zukünftigen Frauen in Empfang. Für die meisten der Japanerinnen stellt sich bald heraus, dass es für sie hier nicht einfacher ist als in Japan. Für die noblen Damen, die keine Ahnung von Feld- und Hausarbeit haben, wird der Alltag zum Albtraum. Sie hatten sich ein angenehmes Leben an der Seite eines Kaufmanns, eines Farmers oder Geschäftsinhabers vorgestellt. Wie sich herausstellt, war alles eine einzige Lüge. Stattdessen ziehen sie mit ihren Männern als Erntehelfer durch das Land und putzen für die weisse Oberschicht, wohnen in Schuppen und schäbigen Hinterzimmern. Im Verlaufe der Jahre erarbeiten sich die einen zwar einen gewissen Wohlstand, das Auskommen wird trotzdem nicht einfacher. In der Landwirtschaft werden sie gar zur Konkurrenz für die Weissen, die auf brutale Weise darauf reagieren:

„Manchmal brannten sie unsere Felder genau dann nieder, wenn sie zu reifen begannen, und wir verloren unsere gesamten Einnahmen für dieses Jahr. Und auch wenn wir am nächsten Morgen Fussspuren im Dreck entdeckten und viele verstreute Zündhölzer und daraufhin den Sheriff baten, vorbeizukommen und sich das anzusehen, sagte er nur, dass es keine Spuren gab, die eine Weiterverfolgung lohnten.“

Sie gründen Familien, leben aber in eigenen Kommunen, wo kaum Kontakt zu weissen Amerikanern besteht, denn diese akzeptieren sie nicht als ihre Nachbarn. Kein Wunder lernen sie nur wenig und schlecht Englisch und ihre Kinder, die sich amerikanische Vornamen zulegen, schämen sich ihrer Mütter, weil diese immer noch an den japanischen Traditionen festhalten. Manch eine der Frauen wünscht sich, sie wäre nie nach Amerika gekommen.

„Meistens schämten sie sich für uns. Für unsere weichen Strohhüte und unsere zerschlissenen Kleider. Unseren starken Akzent. […] Sie wollten andere und bessere Mütter, die nicht so abgearbeitet aussahen.“

Als der 2. Weltkrieg ausbricht und die Japaner Pearl Harbor bombardieren, fängt ein Leben in Angst an.

„Mitsuko ging eines Abends vor dem Essen raus, um Eier aus dem Hühnerstall zu holen, und entdeckte, dass ihre Wäsche auf der Leine brannte. Und wir wussten, dass das erst der Anfang war.“

Es kursiert das Gerücht von einer Liste. Keiner weiss, ob diese wirklich existiert und aus welchen Gründen man darauf aufgeführt wird. Wer auf dieser Liste steht, wird verhaftet und abtransportiert. Die japanische Bevölkerung versucht sich noch unauffälliger zu verhalten als sonst, sie ziehen sich zurück und schweigen.

Schon allein, dass ein Japaner als Fischer arbeitet oder an der Küste lebt, macht ihn der Kollaboration mit dem Feind verdächtig. Grund genug, sie an einen Ort zu bringen, wo sie für Amerika keine Gefahr darstellen. Die einen schlafen in ihren Kleidern, stellen die fein säuberlich geputzten Schuhe vors Bett, damit sie bereit sind, wenn man sie abholen kommt. Obwohl Weisse in die ersten verwaisten Häuser der Nachbarn einbrechen und die Räume plündern, wehrt sich keiner, sondern hält sich still.

„Einige von uns zogen los und besorgten sich Schlafsäcke und Koffer für ihre Kinder, nur für den Fall, dass sie als Nächste dran waren. Andere von uns gingen ganz normal ihrer Arbeit nach und versuchten ruhig zu bleiben. …….[…] Was passiert, passiert, sagten wir uns, es hatte keinen Zweck, die Götter herauszufordern.“

Der Roman ist in acht Kapitel gegliedert, in sieben kommen die japanischen Frauen zu Wort, im achten Kapitel mit dem Titel „Verschwinden“ wird das Wort den Weissen übergeben. Fast lautlos sind die Japaner verschwunden, zurück bleiben ihre Häuser und Geschäfte. Die Hausangestellte kommt nicht mehr zur Arbeit, der Platz in der Schule bleibt leer. Beklagen die Weissen am Anfang noch das Wegbleiben dieser Menschen, verblasst nach einigen Monaten ihr Bild, die Gespräche über sie verstummen, die Namen gehen vergessen. Briefe, die die Jugendlichen ausgetauscht haben, bleiben aus. Ihre Arbeitsplätze nehmen nun Philippinos und Mexikaner ein, Chinesen übernehmen ihre Geschäfte. Ist man anfangs noch unzufrieden mit diesen Arbeitern, arrangiert man sich im Laufe der Zeit mit ihnen und gewöhnt sich an ihre Arbeitsweise. Das Leben geht weiter, als hätte es die Japaner nie gegeben.

„Ungelesene Zeitungen liegen verstreut auf ihren absackenden Veranden und in ihren Vorgärten. Verlassene Autos stehen in ihren Auffahrten. Dickes knolliges Unkraut spriesst auf ihren Rasen. In ihren Gärten verwelken die Tulpen.“

Julie Otsuka ist ein unglaublicher Roman gelungen, der ein Stück Geschichte ans Licht bringt, das bitter schmeckt und kein Ruhmesblatt für die Amerikaner darstellt. Die japanischen Einwanderer wurden genauso diskriminiert und schlecht behandelt wie die schwarze Bevölkerung. Gerade, weil die Autorin den Frauen eine Kollektivstimme gibt, erfährt der Leser in diesem schmalen Buch weit mehr, als wenn ein Einzelschicksal erzählt worden wäre. Diese Frauen waren voller Hoffnungen, aber ihr Traum platzte für die meisten von ihnen wie eine Seifenblase. Was blieb war Entbehrung, harte Arbeit, Enttäuschung und Demütigung. Ein erschütterndes Stück Zeitgeschichte – ein lesenswertes und empfehlenswertes Buch, das mich zu tiefst aufgewühlt hat und mir zu Herzen gegangen ist.

Ich packe einen Reisebücherkoffer

…. für Phileas Blog, auf dem Petra erneut ein spannendes Projekt gestartet hat mit dem Bücherkoffer für Reiseliteratur. Ein herzliches Dankeschön an Petra, die die Superidee mit der Reiseliteratur hatte, und dass ich mitmachen durfte. Es hat grossen Spass gemacht 🙂

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Für immer, Deine Agnes

„Für immer, Deine Agnes“ ist das letzte Buch der Auswanderer-Trilogie von Toril Brekke, das im Droemer Knaur Verlag erschienen ist. Wie die Autorin selber schreibt, lassen sich die Bücher unabhängig voneinander lesen, was mir recht war, da ich die ersten beiden Romane „Elises Traum“ und „Die Reise nach Westen“ nicht gelesen habe. Einzig Brenda ist die Durchgangsgestalt in allen drei Bänden. Im dritten Teil ist sie bereits eine ältere Frau. Der Abschluss der Trilogie befasst sich mit Agnes und Lasse. Wir machen eine Zeitreise, zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach Norwegen.

Agnes verliert ihre Mutter bereits als vierjähriges Kind. Auch ihre Stiefmutter, die ihr Vater Thomas zur Frau nimmt, stirbt im Wochenbett. So muss das kleine Mädchen, gerade einmal sieben Jahre alt, einen grossen Teil der Hausarbeiten übernehmen.

Lasse hingegen ist ein Findelkind. Er wird von Margot, genannt Sonnentanz, als Baby, festgeschnallt auf einem Rentierschlitten, gefunden. Die Frau überredet ihren Mann, das Kind anzunehmen und er willigt mürrisch ein. Die beiden vermuten, dass der Knabe aus Schweden kommt. Die arme Bevölkerung gab damals seine Kinder oft Samen mit, wenn diese nach Norwegen ans Meer zogen. Dort konnten sie sich an gutem Fisch satt essen. Lasse arbeitet auf dem Hof wie ein Knecht. Er arbeitet auf dem Feld und am liebsten fährt er mit dem Boot raus, zum Fischen.

Agnes und Lasse begegnen sich das erste Mal, als Thomas mit seiner Tochter zu Besuch kommt. Lasse schämt sich für den Dreck, der bei seinen Eltern herrscht, denn Agnes mit ihrem goldenen Haar ist sauber und adrett gekleidet. Später, im Konfirmandenunterricht, begegnen sie sich wieder im Pfarrhaus. Als die Konfirmanden einen Choral singen, fällt Agnes auf, welch wunderschöne Stimme Lasse hat.

„Sie traf Agnes tief im Leib; sie war blau, so empfand sie es, dunkelblau wie die Tiefe in einem Brunnen. Sie enthielt ein Zittern von Sonnenschein in warmer Luft, [..]“

Der Pastor stellt Lasse nach der Konfirmation als Knecht ein. Als er Agnes später wieder begegnet, ist für beide klar, dass sie füreinander bestimmt sind. Vater Thomas ist strikte gegen eine Heirat, denn schliesslich ist Lasse ein Verwandter. Dass der junge Mann ursprünglich aus Schweden stammt, interessiert ihn nicht im Geringsten. Argwöhnisch beobachtet er seine Tochter in den nächsten Monaten und ist heilfroh, dass Agnes nicht schwanger ist. Sie wird einem anderen Mann versprochen.

Als Lasse eines Tages leicht bekleidet unterwegs ist, findet er am Wegrand einen Mantel, inklusive eines Geldbeutels. Leider gehören die Fundgegenstände dem Vogt, der sich hinter den Büschen gerade am erleichtern ist. Lasse nimmt seine Füsse in die Hände und stürmt davon, denn der Besitzer wird ihm kaum glauben, dass er nicht stehlen wollte, und ihn als Dieb in die Festung stecken und vermodern lassen.

Ungewollt wird der junge Mann zum Auswanderer nach Amerika. Noch vor der Überfahrt lernt er Kjartan kennen, mit dem er als Bruder Rudolf und Johannes in Bergen an Bord eines Segelschiffes geht, um die Reise nach New York anzutreten. Schon auf der Passage fällt den anderen Passagieren Lasses göttliche Stimme auf und wird oft um Rat gefragt und Beichtvater in Anspruche genommen, denn man vermutet, er sei Pastor. Auch mit dem Zimmermann Peder Andersen unterhält er sich gelegentlich. Dieser vertraut ihm an, dass er gerne vom Schiff gehen würde, aber der Kapitän ihn bestimmt hindern werde, da er für Hin- und Rückreise angeheuert habe. Lasse nimmt das Gepäck des Seemannes entgegen und nimmt es in seiner Kiste mit von Bord.

Bei der Einreise wird aus Lasse Frühlingsschön Les Spring. Einem Matrosen gibt er für Agnes einen Brief mit auf die Rückfahrt, in dem er ihr erklärt, dass er in Red Hook, New York, zu finden sei.

Das Schicksal will es, dass Agnes‘ Verlobter nach einem Unfall stirbt. Durch die junge Stiefmutter, die ihr Vater geheiratet hat, ergibt sich schliesslich die Gelegenheit, dass Agnes doch noch nach Amerika aufbrechen kann. Bei einem verwitweten Onkel mit Kindern wird eine Haushälterin dringend gebraucht.

Dass es unmöglich ist, Lasse in New York zu finden, ist klar. Man könnte auch nach einer Nadel im Heuhaufen suchen. Agnes setzt ihre Reise deshalb nach Dakota fort.

Nach nur neun Monaten verlässt Agnes, nur mit einem Bündel, fluchtartig ihre Stelle, denn der Bauer tritt ihr eines Tages zu nahe. Mit Hilfe der grossen norwegischen Gemeinschaft findet sie erneut ein Plätzchen und verrichtet ihre Arbeit als Haushälterin beim Schneider, Farmer und Schriftsteller Samson A. Eagle und seinen Kindern. Die kranke Ehefrau, die sie sehr mag, stirbt nach kurzer Zeit.

Lasse ist das Glück nicht immer hold. Er arbeitet im Hafen in Red Hook, Brooklyn, das damals noch nicht zu New York gehörte. Später begleitet er die Schwester Elisabeth Fedde auf ihren Betteltouren, um Nahrung für die Bedürftigen im Spital zu beschaffen. Er fängt an in einem Chor zu singen und erhält Einladungen zu Privatanlässen, wegen seiner wunderschönen Stimme, die alle Menschen so sehr berührt. Später begleitet er Fedde auch nach Minneapolis, Minnesota. Man möchte ihm gerne zuflüstern, dass er sich hier nach Agnes erkundigen sollte, die hier schon durch die Strassen spaziert ist.

Als er nach Red Hook zurückkehrt begegnet er Peder Andersen doch noch, der ihn aus einer Schlägerei zieht. Zusammen begeben sie sich auf eine Odyssee durch Amerika. Auf verschiedenen Schiffen gelangen sie nach New Orleans. Auf einem der Schiffe sind bei der Besatzung die Blattern ausgebrochen. Sie versuchen an einem Ort Hilfe zu erhalten und flüchten von Bord, als man sie zwingen will, weiterzufahren. Zu Fuss kommen sie in Texas an, weiter geht es mit einem Maultier, das ihnen gestohlen wird und wieder auftaucht. Dank Peder, der genügend Geld hat, können sie sich zwei Pferde und Gewehre kaufen.

„Lasse dachte an die Diebe, die Schwarzen, die ihm alles gestohlen hatten, was er besass, abgesehen von den Kleidern, die er trug und dem Brief auf seiner Haut. Der Rest gehörte jetzt Peder. Beide Pferde. Proviant und Decken. Gewehre. Alles, was sie für Peders Geld gekauft hatten. Und auf diese Weise war er fast zum Knecht des anderen geworden.“

Auf einer Baumwoll-Plantage steht die Ernte bevor und hier finden sie Arbeit. Obwohl die Sklaverei inzwischen verboten ist und an die Stelle von Sklavenhaltern andere Besitzer getreten sind, ist diese üble Zeit noch zu spüren, zu riechen, und nicht zuletzt wegen der Sklavenhütten, auch zu sehen. Das Unglück klebt an Lasse wie zäher Leim und er macht Bekanntschaft mit den üblen Machenschaften des Ku-Klux-Klans, der ihn in einen Lynchmord mitreisst. Erneut muss er sich mit nichts als seinen Kleidern, die er auf dem Leib trägt, davon machen.

„Wie ein Hund. Zwischen den Schlafhütten hindurch. Mit eingezogenem Kopf wie nach einer Tracht Prügel. Widerwillig an den abgeernteten Baumwollfeldern entlang. Gekrümmt, wie unter einer schweren Last. [..]“

Wieder begegnet er einem freundlichen Menschen, diesmal einem Juden, Simeon. Wie der barmherzige Samariter in der Bibel, teilt er das Essen mit diesem Unglücksraben und nimmt ihn auf seinem Ochsenkarren mit nach Waco. Erneut wird Lasse bestraft, als er denkt, endlich etwas gefunden zu haben, woran er sich festhalten kann. Wie der Schatten verfolgt ihn das Böse auf seinem Weg und mit den Habseligkeiten, die nicht ihm gehören, wird er weiter auf seiner Reise geschickt, die irgendwie nie enden will, so dass er endlich zur Ruhe käme. Ein Tornado könnte nicht tödlicher sein, der seine Schneise durch das Land reisst.

Können sich in einem so grossen Land wie Amerika, zwei Seelen, die füreinander bestimmt zu sein scheinen, überhaupt finden? Kann Lasse das Pech, das ihn verfolgt irgendwann abschütteln?

Toril Brekke erzählt die Geschichte von Lasse und Agnes sehr abwechslungsreich, wobei die Kapitel, in denen es um Lasse geht äusserst spannend zu lesen sind, und ich sehe, vor meinem inneren Auge, bereits den Kinofilm abspulen. Die Aufenthaltsorte der beiden kann man im Buch wunderbar mitverfolgen, denn im Vorsatz ist eine Amerika-Karte abgedruckt. Ob Flucht oder Abenteuer das Motiv zur Auswanderung nach Amerika waren, die Autorin gibt uns einen Einblick in die norwegischen Gemeinden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr stattlich und überall in den Bundesstaaten zu finden waren. Neben Schönheit und Nächstenliebe wird auch über Hässlichkeit und Gewalt berichtet. Geschickt verknüpft Brekke fiktive Personen, mit solchen, die tatsächlich gelebt haben. Nach dem letzten Teil der Trilogie kann ich mir gut vorstellen, dass ich auch zu den ersten beiden Romanen greifen werde, um zu erfahren, was die norwegischen Auswanderer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts alles erwartete.

Frankie

Diogenes hat in seinem Herbst-Magazin Nr. 8 einen Beitrag über eine der ganz grossen amerikanischen Schriftstellerinnen abgedruckt, Carson McCullers. Die Romane wurden in revidierter Übersetzung neu aufgelegt. Ein schlichtes Cover, ein Faksimile von 1965, ziert die Bücher. Von den Erzählungen gibt es ausserdem ein Hörbuch, vorgelesen von Elke Heidenreich. Die Klappentexterin hat darüber bereits eine hinreissende Rezension geschrieben.

Frankie ist zwölf Jahre alt, für ihr Alter ist sie, mit ihren 1,67 Metern, ungewöhnlich gross. Sie lebt mit ihrem Vater, der Juwelier und Uhrmacher ist, in einer Kleinstadt in den Südstaaten. Wir schreiben das Jahr 1943, der 2. Weltkrieg ist in vollem Gange. Frankies Bruder Jarvis ist als Soldat seit zwei Jahren in Alaska stationiert. Ihre wichtigste Bezugsperson ist die schwarze Köchin Berenice, denn Frankies Mutter ist bei der Geburt gestorben.

Jarvis Heirat steht bevor, deshalb kehrt er mit seiner Braut kurz nach Hause zurück, um danach nach Winter Hill weiterzureisen, wo die Hochzeit stattfinden soll. Jarvis heiratet Janice, beide Namen beginnen mit J-A, da passt Frankie nicht dazu. Das Mädchen liebt das junge Paar und möchte dazugehören. Warum also kann sie nicht Jane oder Jasmine heissen? Sie gibt sich kurzerhand einen neuen Namen, F. Jasmine. Die alte Frankie gibt es nicht mehr. F. Jasmine teilt ihrem Vater und Berenice mit, dass sie nach der Hochzeit nicht in die Stadt zurückkehren, sondern mit Jarvis und Janice leben und reisen werde. Wenn das nicht möglich sei, dann werde sie sich mit der Pistole ihres Vaters erschiessen.

Es ist ein sonderbares Jahr. Seit Frankie zwölf ist, läuft alles anders. Das Frühjahr war schrecklich. Sie wurde in einem Mädchen-Klub nicht aufgenommen, weil sie damals noch zu klein war. Deshalb hasst sie diese „dummen Gänse“ jetzt alle. So hat sie zurzeit keine Freundinnen und geht am Samstagnachmittag allein ins Kino, nicht um sich Liebesfilme anzusehen, wie andere Mädchen in ihrem Alter, nein, sie bevorzugt Gangster- und Cowboyfilme. Ihre Haare hat sie kurz geschnitten und ausgerechnet jetzt soll die Hochzeit ihres Bruders stattfinden. Sie spaziert durch die Stadt und wünscht sich dabei, nicht alleine zu sein, dass man von ihr Notiz nimmt. Manchmal möchte sie die Stadt am liebsten niederbrennen oder im nächsten Moment wünscht sie sich, tot zu sein. Sie begeht Dummheiten, indem sie Messer im Warenhaus klaut, zu Hause den Hampelmann spielt und verbotene Dinge mit Barney in der Garage treibt, die ihr gar nicht gut bekommen. Auf einer leeren Baustelle verballert sie die Patronen aus dem Revolver ihres Vaters.

Im Sommer schliesslich, als es heiss wird und die Luft flirrt, verbringt Frankie die meiste Zeit in der Küche bei Berenice und ihrem sechsjährigen Cousin John Henry. Hier finden lange Diskussionen über das Leben, die Hochzeit, den Krieg und die Liebe statt. Berenice erzählt den Kindern gerne die Geschichten ihrer vier Ehemänner, aber nur Ludie, ihr erster verstorbener Mann hat sie wirklich geliebt. Die weiteren Ehemänner hat sie nur genommen, weil sie ihm in irgendeiner Weise geglichen haben und sei es nur wegen dem Daumen oder einem Mantel. Nach dem Essen spielen die drei oft „Bridge zu dritt“. Frankie darf nicht mehr ins Bett ihres Vaters schlüpfen, dafür ist sie jetzt zu alt und zu gross. So lädt sie John Henry zum Übernachten bei sich ein, obwohl er ihr auf die Nerven geht, und schiebt die Angst, die sie häufig befällt auf ihn. Er fürchte sich in der Dunkelheit. Der kleine Junge hält ihren Launen stand, spendet ihr Trost, wenn sie wieder einmal niedergeschmettert ist. Er ist ihr ein treuer Begleiter.

Frankie rechnet aus, dass sie, wenn sie so weiterwächst, über zwei Meter siebzig gross werden wird und ihr nur noch der Jahrmarkt bleibt, wo man sie als Abnormität in einer Bude ausstellen wird.

“Sie hasste sich, wusste nichts mit sich anzufangen, war zu nichts nütze und lungerte den ganzen Tag über in der Küche herum: schmutzig, gierig, gemein und traurig.“

Wie sie so in der Stadt herumwandert, begegnet sie eines Tages einem Soldaten, der hier einige Tage Urlaub verbringt. Der Soldat hat schon ziemlich einen sitzen als er sich mit Frankie für den Abend verabredet. Ob sie zum Tanzen ausgehen wird, weiss sie noch nicht. Vielleicht sollte sie erst einmal mit Berenice darüber sprechen. Berenice ist zwar der Meinung, dass sich Frankie durchaus einen Verehrer zulegen könne, sie denkt dabei an Barney McKean, dem netten Jungen. Ausgerechnet!

Frankie, kein Kind mehr und noch nicht Frau, gerät in einen schönen Schlamassel, als sie den Soldaten trifft, der nach einigen Gläsern Alkohol das Mädchen mit seinen Andeutungen völlig verwirrt.

„Der Soldat beugte sich vor; und währen er sie weiter anstarrte, liess er die Zeige- und Mittelfinger seiner beiden Hände über die Tischplatte zu ihr hinüberspazieren.“

Trotzdem geht sie mit auf sein Hotelzimmer. Dieser unbedachte Schritt wird ihr beinahe zum Verhängnis. Noch am gleichen Abend möchte Frankie zur Hochzeit abreisen. Der grosse Tag fällt dann anders aus, als erwartet. Sie hat nicht die Worte herausgebracht, die sie eigentlich sagen wollte.

„Ich liebe euch beide so sehr. Ihr seid mein Wir. Bitte nehmt mich mit nach der Hochzeit, denn wir gehören zusammen.“

Das frisch vermählte Ehepaar reist im Auto ab – zurück bleibt ein in Tränen aufgelöstes Mädchen. Da will sie nur noch eines, weglaufen. In der Stadt will sie nicht mehr bleiben. Alles ist ein einziger Alptraum.

Inzwischen ist es Winter, Frankie ist dreizehn Jahre alt. Es ist in den vergangenen Monaten viel passiert, die Küchengemeinschaft löst sich auf, die gemeinsamen Momente und die Gespräche sind Vergangenheit.

Es ist lange her, seit ich „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, „Die Ballade vom traurigen Café“ oder „Uhr ohne Zeiger“ gelesen habe. Bereits von der ersten Seite an, habe ich mich in diesem Roman wie zu Hause gefühlt. Die Worte von Carson McCullers haben mir laufend ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Manchmal hat mich das Buch an „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee erinnert, das viele Jahre später veröffentlicht wurde. Dort war allerdings der Vater viel mehr präsent, als hier bei Frankie, wo er eher eine Nebenrolle einnimmt. Auch das Rassenproblem wird nicht ignoriert, kommt immer mal wieder zur Sprache, selbst optisch, denn Bernice hat ein Glasauge; sie hat ein blaues gewählt.

Bei „Frankie“ trat ich in die Küche der Addams ein und nahm als Gast Platz am Küchentisch. Ich hörte Frankie, ihrem kleinen Cousin John Henry und Berenice bei ihren Gesprächen zu. Manchmal waren sie alltäglich, dann wieder philosophisch, es wurden Wünsche geäussert und Träume offenbart. John Henry, der noch nicht alles verstand, warf manchmal einfach ein „Wie so?“ in die Runde. Die drei lachten miteinander, gemeinsam wurde geweint und wieder getröstet. Ich erlebte ein Gespann von Menschen, die in ihrem ganz eigenen Mikrokosmos lebten, die nichts auseinanderzubringen schien. Doch als die Blätter von den Bäumen fielen und die Kälte einkehrte, musste ich, mit einer Träne im Auge, Abschied nehmen, von drei Figuren, die mir auf ihre Weise so sehr ans Herz gewachsen waren. McCullers hat es einmal mehr verstanden, mich mit ihren Worten und Schilderungen in ihren Bann zu ziehen und tief zu berühren.

Wer mehr über Carson McCullers erfahren möchte, dem kann ich das booklet empfehlen, das als Download bei Diogenes zur Verfügung steht. Abtauchen kann der Leser auch in der Autobiographie der Autorin, deren Leben von einigen Schicksalsschlägen durchzogen war.

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Winesburg, Ohio

Eine ganz grosse Freude machte mir der Manesse Verlag, als ich im Verlagsprogramm die Neuauflage von einem Erzählband, eines nahezu unbekannten amerikanischen Autors, entdeckte, Sherwood Anderson. Ich erinnerte mich, dass ich vor vielen Jahren bereits einen Roman von ihm gelesen hatte. „Winesburg, Ohio“ ist die erste Neuübersetzung seit über 50 Jahren. Deas Zentrum von Winesburg ist am Anfang des Buches abgebildet und Daniel Kehlmann hat das Nachwort beigesteuert.

Der Autor Sherwood Anderson wurde 1876 geboren und wuchs im Bundesstaat Ohio auf. Im kleinen Dorf Clyde, unweit des Eriesees, wurde wohl der Grundstein zu den Geschichten dieses Buches gelegt. Anderson war unter anderem Soldat und leitete später eine Farbenfabrik. 1912 verliess er, nach einem Nervenzusammenbruch, seine Frau und seine drei Kinder und wurde Schriftsteller. Anderson heiratete noch dreimal. Auf einer Schiffsreise nach Südamerika starb er schliesslich 1941 an einer Bauchfellentzündung.

Der namenlose Erzähler spricht den Leser direkt an und berichtet von den vielen Menschen in der Kleinstadt Winesburg, irgendwann anfangs des 20. Jahrhunderts. Einer Person, dem jungen George Willard, Lokalreporter beim „Winesburg Eagle“ begegnen wir immer mal wieder in einem Kapitel. Es scheint, als würden in dieser Stadt lauter seltsame, teilweise kauzige Leute wohnen. Einer von ihnen ist der Telegraphist, „das hässlichste Wesen in der ganzen Stadt“ wie uns der Erzähler wissen lässt. Wash Williams will nichts zu tun haben mit den Männern in der Umgebung, aber vor allem hasst er die Frauen. Nur einem erzählt er eines Tages seine Geschichte, George Willard.

Die Lehrerin Kate Swift, dreissig Jahre alt und ledig, hat man zu jener Zeit als alte Jungfer bezeichnet, war aber sinnlicher als jede andere Frau in der Stadt. Von Zeit zu Zeit zieht ein Feuer über ihren Körper. So kommt es, dass sie mitten in der Nacht aus dem Haus eilt um einen Spaziergang zu machen.

„Im Gehen verflog die kühne Erregung, die sie aus dem Haus getrieben hatte, doch dann kehrte sie wieder.“

Sie hat ein Auge auf George, ihren ehemaligen Schüler, geworfen, so denkt der Zeitungsmann, als er Kate Swift aufsucht, um ein Buch abzuholen, das diese ihm empfohlen hatte. Sie spricht eindringlich auf ihn ein, doch George versteht den Sinn ihrer Worte nicht ganz. Die Lehrerin glaubt, in George ein Genie erkannt zu haben und versucht ihm zu erklären, dass er das „Leben kennenlernen müsse“, damit er als Schriftsteller arbeiten könne.

Dann ist da Elmer Cowley, der Sohn eines Kaufmanns, wenn man denn so sagen kann. Denn die Waren im Laden verstauben seit einem Jahr, alles ist schmuddelig und wirr. Immer wieder kauft der Vater neue Ware ein und glaubt, irgendwann wird schon einer kommen und etwas kaufen. Als ein Handelsvertreter seinem Vater wieder etwas aufschwatzen will, bedroht Elmer diesen mit einem Revolver.

„Wir kaufen erst wieder, wenn wir auch etwas verkaufen. Wir sind nicht weiter wunderlich und lassen uns auch nicht mehr von den Leuten anstarren und belauschen. Hauen Sie ab.“

Wunderlich, das ist der wunde Punkt. Das ist das Urteil, das die Bevölkerung Winesburgs über die Familie, vor allem über Elmer gefällt hat, glaubt zumindest er. Das hat er satt und  will allen beweisen, dass er es nicht ist. Sein Vater, ein unfähiger Farmer und ein noch unfähiger Kaufmann, mit einem alten und verfleckten Mantel. Warum kauft er sich nicht einmal einen neuen? Zorn erfüllt ihn, auch Sehnsucht – nach Freunden, nach Anerkennung. Er geht zu George, will ihn sprechen, doch nicht einmal dazu ist er im entscheidenden Moment in der Lage. Ein verzweifelter, junger Mann, der schliesslich seinen Vater bestiehlt und nachts den Güterzug besteigen und die Stadt verlassen will. Doch zuvor bestellt er den Zeitungsreporter nochmals auf den Bahnhof, drückt ihm die Dollarnoten in die Hand, dass dieser sie seinem Vater zurückgeben kann. Dann schlägt er auf George ein, springt auf den Zug auf und hat ihm bewiesen, dass er gar nicht wunderlich ist.

Dies sind nur drei von vielen anderen Charakteren. Da ist noch der Pfarrer, der Kate Swift nachts durchs Fenster beobachtet, oder Jesse Bentley, der die Farm seines Vaters übernehmen muss. David Hardy, sein Enkel, der zu seinem Grossvater zieht, weil seine Mutter eine launische, zornige Frau ist, „man sagt, dass sie Drogen nehme„, und …

Ich könnte noch lange berichten, aber jeder soll die Möglichkeit haben, seine Geschichte für sich zu entdecken, denn lesenswert sind alle Erzählungen, die in einer Weise mit einer anderen verknüpft wird. Wer mag, kann hier einmal reinlesen.

Eigenbrötler, kauzige Typen, einsame, verlassene Seelen, normale Menschen – was auch immer man normal nennen will -, die sich in irgendeiner Form nach Liebe sehnen, sie suchen und hoffen, sie zu finden, Menschen die Träume haben, wie wir alle. Die Ehe, Nachbarn und Freunde rundherum sind kein Garant für Glückseligkeit. So packen die Einen ihre Koffer und glauben ihre Sehnsucht in der Grossstadt stillen zu können oder kehren gar nach Winesburg zurück, wie eine Grossmutter mit ihrem Enkel. Oft fehlt in den Familien ein Elternteil und die ledigen Frauen sind kühn und wagen den ersten Schritt auf den Mann ihrer Träume.

Wie eine Spaziergängerin schlenderte ich durch die Strassen, von Haus zu Haus, und dort wo ich stehen blieb und einen Blick durchs Fenster warf, kam eine Geschichte eines weiteren Bewohners zugeflogen, aus Winesburg, Ohio.