Ella Maillart, die Reisepionierin liess sich 1945 in Chandolin nieder, einem kleinen Dorf auf 2000 Metern Höhe, im Val d’Anniviers. Auch die Schriftstellerin Corinna S. Bille zog sich in einem Seitental in ihr Maiensäss zurück.
Wir waren im einzigen Bücherdorf der Schweiz, im Antiquariat „La plume voyageuse“, wo uns die Antiquarin mit einer Begeisterung riet, unbedingt den Wohnort von Ella Maillart zu besuchen, es erinnere sie stark an den Tibet. Die Dame musste es ja wissen, ist sie doch selbst weit in der Welt herumgekommen.
Da wir einige Tage im ältesten Hotel des Tales verbringen wollten, bot sich ein Abstecher ins höher gelegene Dorf geradezu an. Den Eingang ins Val d’Anniviers erreicht man vom Rhonetal bei Sierre. Die Strasse ist sehr kurvenreich und schraubt sich, den Felswänden entlang, langsam in die Höhe.
Als Beifahrer blickt man tief in die Schlucht hinunter. Da kommt manch einer ins Schlucken. Immer weiter stösst man nach hinten, bis sich das Tal öffnet und einen traumhaften Blick auf die Bergwelt freigibt, vor allem auf den Berg des Wallis, auf das Matterhorn. Allerdings zeigt sich der Berg von ungewohnter Seite – von hinten. Das tut der Faszination jedoch keinen Abbruch.
Von Vissoie aus geht es nochmals achthundert Höhenmeter hinauf. Die Strasse wird immer schmaler. Und schliesslich sind wir auf einem grossen, etwas öden Platz, wo auch für das Postauto Endstation ist. Ich mache einen Abstecher ins Tourismusbüro und erkläre, dass ich mich für Ella Maillart interessiere. Die Dame übergibt mir einen Schlüssel für das Museum, das im alten Dorfkern liegt. Das Dorf ist vom Platz aus nicht zu sehen. Einige Minuten Fussmarsch und wir erblicken erst einmal die Kirche.
Die typischen Walliser Häuser, deren Holz durch Jahrzehnte intensiver Sonneneinstrahlung schwarz geworden ist, kleben wie Schwalbennester am Steilhang. Und nun verstehe ich auch, was die Antiquarin mit Tibet meinte. Ob Tibet oder Ladakh, es geht einfach nur runter. Es erstaunt mich immer wieder, dass die Gebäude nicht abrutschen.
Im Dorf ist keine Menschenseele anzutreffen und schon stehen wir vor dem kleinen Museum, das in der alten Kapelle untergebracht ist. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss, der tatsächlich passt und wir haben ein Museum ganz für uns allein. Keiner der uns den Blick vor den Vitrinen versperrt. Und in aller Ruhe können wir uns die Fotos, Dokumente, Bücher und Reise-Accessoires, die im einzigen Raum ausgestellt sind, ansehen und die Begleittexte lesen.
Eine Treppe führt ausserhalb der Kapelle ins Obergeschoss, wo ein kleiner Teil von Ellas Bibliothek untergebracht ist. Und dann wartet auf uns auch noch ein 45 minütiger Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens. Ein Journalist besuchte die Autorin wenige Jahre vor ihrem Tode und liess sie erzählen. Auch im Alter von 93 Jahren hatte die Frau eine sehr bestimmte Art aufzutreten und noch immer blitzte der Zorn aus ihren Augen, als sie berichtete, wie sie in der Schweiz als Kommunisten-Sympathisantin abgestempelt wurde, weil sie Russland intensiv bereist hatte. Es ist spannend, der Frau beim Erzählen zuzuhören.
Im Tourismusbüro sagte man mir, dass ich den Schlüssel vor zwölf Uhr wieder abgeben müsste. Es ist zehn vor Zwölf – eilig schliessen wir hinter uns die Türen und hetzen den steilen Weg hinauf. Völlig ausser Atem, stürze ich noch rechtzeitig ins Büro, um meine Identitätskarte abzuholen und mich nach dem Laden zu erkundigen, wo Postkarten und Bücher von Ella Maillart zu kaufen sind. Der ist Gott sei Dank gleich vis à vis und ich stürme auf den letzten Drücker auch dort rein, denn es ist nicht sicher, dass am Nachmittag der Laden nochmals geöffnet wird. Es ist kein Ansturm von Kundschaft zu erwarten. Aber die Ladenbetreiberin wartet wohl gerne noch einige Minuten, wenn schon mal jemand vorbeikommt, um etwas zu kaufen.
Die Einkäufe sind getan. Wir nehmen den Fussweg wieder zurück ins Dorf runter, machen Halt beim winzigen Alpenmuseum, das auch nur ein grosser Schaukasten ist und Flora und Fauna der Alpen präsentiert und erklärt.
Wir suchen das Häuschen von Ella Maillart, namens „Atchala“, wo sie bis zu ihrem Tod gelebt hat. Aber da ist niemand und doch scheint es mir, als müsste die alte Dame gleich um die Ecke kommen. Ihr Geist begleitet uns auf unserem Rundgang, auch als wir auf den Kalvarienberg steigen, wo sie sich gerne auf einer Bank niederliess und sicher den atemberaubenden Blick ins Rhonetal genossen hat. Kein Wunder, hat sich diese bemerkenswerte Frau hier oben wohl gefühlt, denn es ist ein schönes Fleckchen Erde. Reich beschenkt an Eindrücken kehren wir von unserem Ausflug zurück ins Hotel und haben noch viel zu diskutieren über eine Reisepionierin, die nur noch wenige kennen.
Museum:
Espace Ella Maillart
CH-3961 Chandolin
Website: http://www.ellamaillart.ch
Photographien sind ausgestellt im Musée de l’Elysée, Lausanne
Website: http://www.elysee.ch