„In den Wald zu gehen bedeutet in unserer Sprache nicht nur, Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln. Es heisst auch, wie immer erzählt wird, sich zu verstecken, zu flüchten, aus dem Hinterhalt anzugreifen.“
Die Ich-Erzählerin, die dies sagt, stammt aus einer Familie, die zur slowenischen Minderheit in Kärnten gehört. Das Zusammenleben zwischen den deutsch-und slowenischsprachigen Österreichern ist lange kein Problem. Dann erfolgt 1941 durch Himmler die Anordnung, dass die Slowenen umgesiedelt werden sollen. Viele Familien müssen ihre Häuser und Bauernhöfe verlassen, werden zwangsgeräumt. Hingegen sollen aus anderen Gebieten Reichsdeutsche, unter anderem aus dem Kanaltal (im heutigen Friaul), in Kärnten angesiedelt werden.
Die Kindheit des Mädchens wird stark geprägt durch die Grossmutter. Ihr folgt sie Schritt auf Tritt wie ein Schatten und erfährt so manche Geschichte aus ihrem Leben, vor allem aus den Jahren während des 2. Weltkrieges. Der Vater ist der Meinung, dass die Kinder diese Geschichten nicht verstehen würden, doch Grossmutter ist da ganz anderer Ansicht. Sie erzählt deshalb, wie sie die Polizisten angefleht habe, ihren zehnjährigen Sohn in Ruhe zu lassen, der doch in die Schule gehen müsse. Das Flehen verhallt im Wind, und eine Woche nach dem Verhör des Buben, wird sie vom Hof geholt und ins Konzentrationslager nach Ravensbrück deportiert. Sie ist bereits für die Vergasung selektiert worden, als eine Wienerin eingreift. Sie tauscht die Lagernummer mit der einer Toten und meint „wir Österreicherinnen müssen doch zusammenhalten“. Nie hat sie rettendere Worte gesprochen und gehandelt und so überlebt Grossmutter die Gräuel, Krankheit und Hunger. Nach zwei Jahren kehrt sie zu ihrer Familie zurück und erreicht in der Dunkelheit den Hof.
„Mitzi, du bist wieder da, habe ihr Mann gerufen und sie so stürmisch umarmt, dass sich ihr Kopftuch gelöst habe und auf den Boden gefallen sei. Er hat mich so heftig umarmt, dass das Kopftuch nur so geflogen ist, sagt Grossmutter und lächelt.“
Der Vater der Ich-Erzählerin ist zwölf Jahre alt, ein Kind – als er mit den Partisanen gegen die deutsche Wehrmacht kämpft. Auch sein Vater schliesst sich den Partisanen in den Wäldern an. Die Frauen sorgen für die Lebensmittel, die sie ihnen bringen oder auf den Höfen abgeholt werden. Eine schwierige und gefährliche Zeit für alle Beteiligten, denn manchmal ist ihnen ein Mitbürger nicht wohl gesinnt und verrät sie und ihre Verstecke.
Die Familie der Ich-Erzählerin leidet häufig unter den Launen des Vaters und seiner Tobsuchtanfällen. Oft bleibt er im Wirtshaus hängen und trinkt zu viel. Irgendwann mag die Mutter ihren Mann nicht mehr holen, weil man sich auf dem Heimweg schämen müsse und schickt stattdessen die Tochter. Er ist beleidigt, wenn man seine Anordnungen nicht befolgt, dann kann er tagelang schweigen. Er spricht von Selbstmord, überhaupt vom Tod und die Kinder werden langsam mit seinem Gift beträufelt, aber nur gerade mit einer Dosis, dass sie daran nicht zugrunde gehen.
Eines Tages begibt sich die Grossmutter für ein paar Tage auf eine Reise, an den Ort, der ihr die qualvollste Zeit ihres Lebens bereitet hat. Aus ganz Europa strömen Frauen in Ravensbrück zusammen. Sie gedenken der Toten, Geschichten werden ausgetauscht und als die Grossmutter zurückkehrt, hat sie zwei Bücher im Gepäck, die sie ihrer Enkeltochter unbedingt zeigen möchte, vor allem aber auch der „ungläubigen“ Mutter, wie sie sagt.
Ausgerechnet am Totenbett der geliebten Grossmutter, erfährt die Ich-Erzählerin die Geschichte ihres Vaters, die namhaft zu seinem Kriegstrauma beigetragen hat. Leni, Grossvaters Schwester, berichtet, wie sie die Situation erlebt hat, als die Polizei auf dem Hof erschien und den Jungen mitgenommen hat. Danach erzählt auch der Vater seinen Teil, der furchtbarer und schrecklicher nicht sein könnte. Unvorstellbar, was einem Kind angetan werden kann! Die Menschen rundherum und seine Tochter, hören seinen Schilderungen aufmerksam zu und erstaunt stellt er fest, wie lange er an einem Stück von sich erzählt hat.
„Ich bin in höchster Aufregung und möchte aufspringen, Fragen stellen, die ich nicht zu Sätzen ordnen kann. Sie bewegen sich in mir als durcheinandergeratene Pfeile, die in alle Richtungen schnellen und voneinander abprallen. […] Seine Erzählung ist zu meiner geworden, stelle ich fest, obwohl ich in diesem Augenblick gar nichts feststellte, nur das Gefühl habe, dass er mir einen Teil meiner eigenen Geschichte erzählt hat.“
Die Ich-Erzählerin besucht auf Wunsch der Mutter das Gymnasium in Klagenfurt. Danach studiert sie Theaterwissenschaften in Wien, kehrt vor Abschluss der Dissertation ins Elternhaus zurück, weil das Stipendium ausläuft. Als die junge Frau nach Hause kommt, ist die Mutter der Ansicht, dass es an der Zeit ist, dass ihre Tochter die Verantwortung für die Familie übernehmen müsse, denn sie habe die Möglichkeit bekommen, die Schule zu besuchen. Die Mutter hat genug von der Ehe und wünscht, ein eigenes Leben führen zu können.
„Ich träume jahrelang nur von Schlangen sagt sie, Nattern und Vipern, wohin ich schaue. Ich werde von ihnen verfolgt und beschlichen. Sie haben schon Nester in mir gebaut. Ich kann das Gift, das mein Mann über mich geschüttet hat, nicht mehr loswerden, sagt sie.“
Es ist keine günstige Zeit, als die Ich-Erzählerin nach Slowenien reist und in Ljubljana lebt, im Land, wo Slowenisch kein Fremdkörper ist und sie nicht schräg angeschaut wird, wenn sie sich in ihrer Muttersprache unterhält. Nach einem Jahr kehrt sie nach Kärnten zurück, denn Krieg liegt in der Luft und sie verlässt das Land, noch bevor die Grenzen von den jugoslawischen Titotruppen kontrolliert und bewacht werden. Der Vater ist ausser sich, als er von den Kriegsabsichten erfährt. Haben die Slowenen aus dem letzten Krieg denn überhaupt nichts gelernt? Doch dies ist wiederum eine ganz andere Geschichte.
Als die Ich-Erzählerin am Theater von Klagenfurt ihre Arbeit aufnimmt, stellt sie fest, dass die slowenische Sprache aus ihren Sätzen verschwindet.
„Eines Tages werde ich feststellen, dass sie in meinen Notizen und Aufzeichnungen nicht mehr vorhanden, aus den Schubladen ausgezogen ist, dass sie meinen Schreibtisch geräumt und ihre schönsten Kleider mitgenommen hat.“
Maja Haderlap gibt mit ihrem Roman der slowenischen Minderheit endlich eine Stimme, die man bis jetzt kaum ge- und erhört hat. Viele Menschen haben bisher geschwiegen, wie es der Vater der Ich-Erzählerin auch getan hat. Er mochte sich nie, weder politisch äussern noch engagieren, er meinte bloss: „Schlafende Hunde weckt man nicht“. Es ist erschütternd, was man hier zu lesen bekommt. Erneut zeigt sich, dass Kinder, die erst nach dem Krieg geboren wurden, von den kriegsgeplagten Eltern und Grosseltern geprägt werden und ihren Teil an deren Vergangenheit mittragen müssen. Es wird ihnen eine grosse Last auf den Rücken gepackt. Ich konnte den Roman, der sehr autobiographisch ist, nicht in einem Zug durchlesen. Ich musste das Buch immer wieder auf die Seite legen, denn manchmal wurden mir die Kriegsschilderungen einfach zu viel und es kam mir vor, als hätte man mir einen Felsen auf die Brust gerollt, der mir das Atmen schwer macht. Wie muss es erst für ein Kind sein, das diese fürchterlichen, realen Erlebnisse statt eines Märchens erzählt bekommt und mit den Traumata der Erwachsenen aufwachsen muss? Viele Szenen konnte ich bildlich vor mir sehen. Gleichzeitig findet die Autorin wunder-schöne Worte, um Gefühle auszudrücken. Sie spielt mit der Sprache, mit den Worten. Man merkt an vielen Stellen, dass sie sonst Lyrik schreibt.
Teilweise war es zwar anstrengend, wenn sich eine Aufzählung von slowenischen Namen über eine halbe Seite hinzog. Sie füllten die Zeilen wie auf einem Kriegerdenkmal für Gefallene. Namen werden erwähnt, die nicht im Gedächtnis haften bleiben, sind aber wichtig, um einfach klarzumachen, wie viele Familien ein ähnliches Schicksal erleiden mussten. Das Buch hat es verdient, viele aufmerksame Leser zu erhalten, weil es, meines Erachtens, nötig ist, dass man von den Scheusslichkeiten in all ihren Facetten, die nicht nur Juden, sondern auch die Kärntner Slowenen mit ihren Familien erdulden mussten, endlich erfährt bzw. sie nicht vergisst. Der Wallstein Verlag hat ein bedeutendes Buch herausgegeben und zu Recht hat Maja Haderlap dafür den Ingeborg Bachmann-Preis 2011 erhalten.