Ich sag nur eines, mammamia, war das ein Tag!!
Es soll mal einer sagen, dass Literatur kein Sport sei und nicht fit hält. Was ich heute in der Stadt rumgesprintet bin, uffa, da war ich froh, zwischendurch ins Tram sitzen zu können, um mich durch die Stadt schaukeln zu lassen. Aber nun mal ganz schön der Reihe nach.
„Zürich liest“ hält 140 Veranstaltungen bereit, von Donnerstag bis Sonntag. Mir reichen definitiv Freitag und Samstag. Samstag war ich jetzt gerade mal zwölf Stunden unterwegs. Ich bin so schweissnass, wie nach dem Sport, es war ein Marathon.
Unterwegs im Zug nach Zürich war ich noch am Überlegen, ob ich am Stadtrundgang mitmachen sollte oder nicht. Es war 10 Uhr 50, als ich Richtung Bellevue, das liegt direkt am See, trabte und schliesslich einen schnelleren Gang einlegte. Ich wollte definitiv dabei sein.

Die Festival-Fahnen flattern vor dem Opernhaus
Das Motto lautete: „In Zürich möchte ich wohl leben“ auf den Spuren von Schriftstellern durch Zürichs Altstadt
Zahlreich haben sich die Literatur-Spaziergänger am Treffpunkt eingefunden und Martin Dreyfus erwies sich als sehr kompetenter Führer an die literarischen Orte.
![DSC01102[2]](https://lesewelle.files.wordpress.com/2011/10/dsc011022-e1319931623867.jpg?w=584&h=778)
Martin Dreyfus auf dem Fenstersims des Dada-Hauses
Da wurden Begebenheiten von Schriftstellern, die in Zürich lebten oder für die Zürich nur Durchgangsstation war, beschrieben, durch Zitate, Aufzeichnungen und Gedichte. So kamen wir an Orten vorbei, wo Elias Canetti, Stefan Zweig, Else Lasker-Schüler, Paul Celan, James Joyce und viele mehr gelebt und gewirkt haben. Ausnahmen bildeten der einheimische Hugo Lötscher und auch Gottfried Keller. In zwei Stunden erfuhren wir Spannendes und Lustiges, aus einer Zeit, die längst der Vergangenheit angehört und nie mehr so glanzvoll sein wird. Etliche Bauten gibt es heute nicht mehr, sie mussten grässlichen Betonklötzen weichen oder, wie das leider üblich ist, eine Buchhandlung wurde zum Kleider- oder einem Irgendwas-Shop. Ursprünglich wie damals steht das Hotel Hirschen noch da, wo anfangs der 1930er-Jahre Erika Mann mit der „Pfeffermühle“ anfing, Theater aufzuführen, mit dabei war die grossartige Therese Giehse.

Hotel Hirschen, Wirkstätte von Erika Manns Pfeffermühle
Wir standen vor dem einzigartigen Literatur- und Künstlercafé Odeon, das heute auf die Hälfte der Fläche geschrumpft ist, weil nebenan eine Apotheke eingezogen ist, wo sich Kafka, Joyce, Tucholsky und andere Berühmtheiten die Klinke in die Hand gaben.
Das ehemalige Hotel Schwert, wo unter anderem Goethe wohnte, durfte auch nicht fehlen, gleich daneben im Hotel Storchen residierte Nelly Sachs, für die Paul Celan extra nach Zürich gereist war und so das Gedicht zum Hotel Storchen entstand.

das ehemalige Hotel Schwert
Nur einen Katzensprung entfernt wohnte Marthe Kauer, die Leiterin der Volkshaus-buchhandlung, die selbst einen Berthold Brecht in die „Katakombe“ (der Treff für Lesungen zwischen den Bücherregalen der Buchhandlung) zu einem Auftritt überreden konnte. Lenin, der mit seiner Frau in einem Zimmer logierte, das damals schon eine kleine EU war, weil so viele Nationen in ein und derselben Wohnung eingemietet waren.

dazu gibt es nichts zu sagen
Sehr amüsant war die Schilderung über Ricarda Huch, die damals als Frau in Deutschland noch nicht studieren durfte und deswegen in die Schweiz an die Uni kam. Sie war am Anfang Gast im ehemaligen Hotel Bellevue. Sie sass im Restaurant, zwei Herren daneben unterhielten sich in einer Sprache, die sie als keine westeuropäische Sprache erkannte. Slawisch war es aber ebenso wenig, vielleicht Usbekisch, Turkmenisch? Am Schluss stellte sich heraus, dass die beiden Männer ganz einfach Zürichdeutsch gesprochen hatten, von dem die Dame kein Wort verstanden hatte, was sich später allerdings änderte.

das ehemalige Hotel Bellevue
Es war zwar kalt, aber durch den zackigen Gang unseres Literaturführers kam man gar nicht zum Frieren. Der Rundgang war wundervoll und und hochinteressant. Man lernt seine Stadt aus ganz anderen Blickwinkeln kennen.
Eines muss vielleicht auch noch gesagt werden: die beiden Weltkriege sind schuld, dass etliche Literaten überhaupt in unser Land gekommen sind. Sie haben die Stadt Zürich, auch wenn sich die Einen nur kurze Zeit hier aufhielten, durch ihren Aufenthalt, sehr bereichert.

Walter Mehring (aus den Unterlagen von Martin Dreyfus)
Um zwei Uhr wollte ich an einer Lesung teilnehmen, die ebenfalls speziell war, denn sie wurde im Tram durchgeführt. Ab 11. Dezember fährt die Linie 4 eine andere und teilweise komplett neue Route. Wie lange diese in Bau war, weiss ich schon gar nicht mehr, sicher zwei Jahre oder länger. Wir hatten also das Vergnügen, 50 Minuten auf der neuen Strecke durch die Stadt zu fahren und Endo Anaconda beim Lesen, aus seinem zweiten Buch seiner Kolummnen „Walterfahren“ zuzuhören. Walter ist der Name seines über zwanzig Jahre alten und verrosteten Autos. Anaconda ist der Sänger der Berner Band „Stiller Has“ und ein Unikum für sich. Ich sag nur eines: es war zum Schreien:)

Endo Anaconda mit seiner Verlegerin
Ach ja, hier muss ich noch erwähnen, als ich mich am Bücherstand erkundigt habe, wo ich Tickets für die Fahrt kaufen könne, da meinte die nette Dame, sie hätte noch Gratis-Tickets und schenke mir die Karte 🙂

Endo Anaconda
Dann war da noch die Truppe von „Index“, ein Künstler-Kollektiv, junge Autoren von Romanen, Theaterstücken und Kunstaktionen. Diese hatten am Bellevue ein Schreibbüro eingerichtet, wo man gegen ein kleines Entgelt, eine Geschichte bestellen konnte, egal ob man einen Liebesbrief, einen Witz, eine Weihnachts-, Familien- oder Pornogeschichte (dies ist kein Witz, stand so da) wünschte. Worte, Namen, Handlungsorte konnte man, wenn man wollte, vorgeben.

Einer der Schreiber hackte die Geschichte in 30 bis 45 Minuten in seine mechanische Schreibmaschine.

Index-Autoren beim Geschichten schreiben
Ich machte also meine Lesungsfahrt, wo sich endlich meine Füsse ausruhen konnten und holte meine Geschichte nachher ab. Inzwischen waren die Leute völlig überlastet und kamen mit Schreiben kaum noch nach.

"Mein" Autor Kurt Shortfart macht sich erste Notizen
Meine Stichworte waren Weihnachtsgeschichte, Alphütte und die Vornamen von meinem Liebsten und mir. Ich war ja so gespannt.
Als ich das Blatt in den Händen hielt, habe ich sicher gestrahlt wie tausend Sonnen. Wer kann schon eine Weihnachtsgeschichte sein Eigen nennen, die extra für ihn geschrieben wurde?
Das Papier hatte viele kleine Löcher, von all den Os des Hämmerchens, das längst seine Schuldigkeit getan hat. Ich war begeistert. Mir schien, als würde mich der Autor kennen, so treffend hat er die Geschichte verfasst, die den Titel „Die Kerze“ trägt. An Weihnachten werde ich diese kleine Geschichte meiner Familie vorlesen.
Jetzt hatte ich etwas Zeit, um es gemächlich anzugehen. Ich schlenderte über die Bellevuebrücke, quer durch den Flohmarkt zur Bahnhofstrasse und genehmigte mir zwischendurch eine kleine Verpflegung. Der nächste Gang führte mich in die Buchhandlung von Orell Füssli, wo ich plötzlich die Musik einer Handharmonika hörte. Da sass eine Musikerin in der Abteilung für fremdsprachige Literatur und spielte so wunderschöne und melancholische Lieder, ich wähnte mich mitten in Paris, woher die Dame, deren Namen ich nicht kenne, auch stammt.

Klänge aus Paris
Dazwischen lass sie aus dem Buch von Dominique de Rivaz „La Poussette“ (der Kinderwagen) und ich hörte ihr gerne zu, weil ich die französische Sprache so liebe. Eigentlich hätte die Autorin selber lesen sollen, sie war jedoch aus familiären Gründen verhindert.
Jetzt dauerte es nicht mehr lange und der nächste Höhepunkt sollte meinen literarischen Tag beschliessen. Ich hatte mich mit einer Freundin für die „Lesung“ von Rafik Schami verabredet.
![DSC01147[1]](https://lesewelle.files.wordpress.com/2011/10/dsc011471-e1319933030718.jpg?w=584&h=779)
Die Lesung ist bei ihm freies Erzählen. Der Saal war komplett ausverkauft (für zwei Veranstaltungen!). Da kam dieser überaus sympathische Mann auf die Bühne und wir hörten ihm zu und hörten ihm zu und ….. Rafik Schami fragte immer mal wieder: „Soll ich noch eine Geschichte erzählen? Soll ich das überspringen?“ Wie kleine Kinder, die am Boden vor der Märchentante sitzen, riefen wir: „nein, bitte weiter“. Der Mann ist unglaublich, steht da mitten auf der Bühne, lässt auch seine Hände reden und gibt eine Geschichte nach der anderen aus seinem neuen Buch „Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte“ zum Besten.

Rafik Schami
Wir hätten ihm noch lange zuhören können, aber irgendwann musste leider Schluss sein. Eine Zuhörerin rief ihm auf Arabisch zu:“Ich wünsche Ihnen eine gute Zunge“, worauf er ihr ebenfalls eine „gute Zunge“ wünschte. Dann stand noch Signieren seiner Bücher auf dem Programm, danach musste er den Nachtzug nach Bremen erreichen, wo ihm der mit 7500 Euro dotierte Preis „Gegen Vergessen – für Demokratie“ verliehen wird.
Er lobte das neue viertägige „Zürich liest“-Festival und versprach nächstes Jahr wieder zu kommen. Nicht nur ich, wir alle nehmen ihn beim Wort, denn er war grossartig, er ist ein wahrer Erzähler, der locker mehrere Stunden als Alleinunterhalter bestreiten kann. Es wird keine Sekunde langweilig. Am Anfang verlangte er mehr Licht, damit die Zuschauer auf der Galerie nicht einschlafen würden. Dazu bestand keinen Augenblick Gefahr.
So, nun reicht es für eine Weile. Ich könnte noch viel erzählen, denn ich bin voll von tollen Eindrücken, von Begegnungen mit netten Menschen und auch der Herbst zeigte sich noch einmal von seiner besten Seite. Es war spannend und ich bin überzeugt, dass das Festival eine gute Bilanz ziehen kann. Ich auf jeden Fall bin begeistert 😀
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