Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse

Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer SchickseMordechai Wolkenbruch, schlicht Motti genannt, ist fünfundzwanzig Jahre alt und orthodoxer Jude. Seine Mutter führt in der Familie das Regiment und befindet, dass es Zeit wäre, dass auch ihr Jüngster endlich heiraten sollte. Heiratswillige jüdische Kandidatinnen gibt es genügend und gar manches Treffen mit anderen Müttern und ihren Töchtern finden nicht ganz zufällig statt. Doch die Frauen, die Mottis Mame für ihren Sohn aussucht, entsprechen nicht ganz den Vorstellungen des Wirtschaftsstudenten. Die meisten sehen aus wie seine Mutter und haben ein gut geöltes Mundwerk wie sie.

Motti hat längst eine Frau ins Visier genommen. Sie sitzt wie er in den gleichen Vorlesungen an der Universität. Da die junge Frau ihm ausserordentlich gut gefällt, vor allem ihr tuches (Hintern), wird er ein regelmässiger Besucher der Vorlesungen. Ein Haken hat das Ganze: Laura, so der Name der Angebeteten, ist Nichtjüdin und Motti getraut sich nicht, sie anzusprechen. Er hat keinerlei Erfahrungen mit Frauen, schliesslich werden die Begegnungen mit ihnen, in seinem jüdischen Alltag ständig von seiner Mutter organisiert.

„Sofort fühlte ich mich sejer schlecht, auf mehreren Ebenen; als hätte ich ein Kilo milchikes mit einem Kilo fleischike vermengt und in einem Bissen heruntergewürgt. Mir gefiel diese Laura unsäglich. Doch allein schon der Tatsache, dass sie hojsn trug – wohlgemerkt auffalend sportlich geschnittene -, war zu entnehmen, dass es sich bei dieser froj um eine schikse handelte; auch ihr unjüdischer Name verriet, dass sie mit grosser Wahrscheinlichkeit regelmässig Schweine ass und am schabbes hemmungslos elektrsche Gerätschaften in Gang setzte. Dennoch empfand ich den Namen Laura als Wohlklang, und ich muss gestehen, dass sich die Achse meiner jiddischkajt an diesem frimorgn leicht verschob.“

Motti der bei seinem Vater, im Büro der Wolkenbruch Versicherungen, arbeitet, kommt öfters auch zu der alten Frau Silberzweig. Für die jüdische Gemeinde ist sie eine Hexe, da sie sich mit Karten legen beschäftigt. Auch für Motti legt sie die Karten, die ihm prophezeien, dass noch Einiges auf ihn zukommen werde.

„Jingele“, sagte Frau Silberzweig zärtlich und belustigt, „da warten spannende zajtn auf Sie! Oder auch nicht. Wer weiss schon, ob das Zeug da stimmt. Heisst zwar „treferaj“, aber ob es auch trifft …“ […]

„Herr Wolkenbruch, machen Sie nicht ein solches punem (Gesicht)! Es kommt alles gut. Es kommt immer alles gut. Kann ich Sie so gejn lassen?“
„Ich glaube schon“, sagte ich.
„Dann gehen Sie und leben Sie. Und besuchen Sie mich wieder mol.“

In Michèle findet er eine Verbündete. Zwar wäre sie für ihn eine ideale Ehefrau, wenn es nach den Müttern ginge, aber der Funken der Liebe springt bei ihnen nicht über. Sie mögen sich und beschliessen, sich für einige Zeit aus der Verkupplungsszene zu verabschieden und so zu tun, als ob. So verschaffen sie sich für einen Moment eine Verschnaufpause bevor die Braut- bzw. Bräutigamschau wieder weitergeht. Das kommt allerdings gar nicht gut an. Motti muss beim Rabbi vortraben und wird mit guten Ratschlägen eingedeckt, um alsbald zu seinem Onkel nach Israel geschickt zu werden.

Weit weg von der Mame, in äusserst liberaler Umgebung, erlebt er erstmals wie es sich anfühlt, nicht fremdbestimmt zu sein. Völlig verwandelt kehrt er von seiner Reise aus dem Nahen Osten zurück. Er beschliesst endlich sein eigenes Leben zu leben und nicht wie es seine Mutter für ihn vorgesehen hat. Auch äusserlich verändert, mit neuer Brille, von einem nichtjüdischen Optiker, und nach dessen Rat, mit gestutztem Bart, wechselt er, für die Vorlesungen an der Uni, die zu kurzen, schwarzen Hosen gegen Jeans. Was für eine Schande!

Erstmals wird er von seiner Umgebung wahr genommen, selbst Laura, seine Traumfrau, kommt ins Gespräch mit ihm, lädt ihn gar zur WG-Party ein und Motti hebt in den siebten Himmel ab. Endlich!

Auswärts übernachten geht hingegen gar nicht und seine Mame ist einer Ohnmacht nahe, nachdem er erst am nächsten Morgen zu Hause eintrifft. Die Mutter beschimpft seine Eroberung in wüsten Worten, während der Vater sich einmal mehr hinter seiner Zeitung versteckt und brenzlige Situationen höchstens mit einer spassigen Bemerkung zu entschärfen versucht. Mordechai Wolkenbruch muss sich entscheiden.

Thomas Meyer hat einen umwerfenden ersten Roman hingelegt, der umgehend für den Schweizer Buchpreis 2012 nominiert wurde. Das Buch ist in jiddisch-deutscher Sprache geschrieben und den jiddischen Ausdrücken musste ich immer wieder im Glossar hinterherhechten, denn viele Worte sind mir nicht geläufig. Ich könnte mir gut vorstellen, dass weitere Begriffe in unseren Sprachgebrauch Einzug halten, viele sind schon seit Jahrzehnten in Gebrauch, ohne dass uns bewusst ist, dass sie jidischer Herkunft sind. Der blizbrif für E-Mail gefällt mir bsp.weise sehr 😉

Der Roman kommt anfangs leichtfüssig daher und geht zu Herzen. Mit viel Humor wird das Leben der Familie Wolkenbruch und das Verhältnis zwischen Motti und seiner Mame geschildert. Die Situationen spulen sich wie ein Film vor meinem inneren Auge ab und tatsächlich soll das Buch auch verfilmt werden. Thomas Meyer arbeitet bereits am Drehbuch. Je weiter der Roman jedoch fortschreitet und je mehr sich Motti verändert, desto nachdenklicher stimmt mich das Geschehen. Es wird das Dilemma eines jungen Mannes aufgezeigt, der aus den traditionellen Strukturen seiner jüdischen Gemeinschaft ausbrechen möchte. Der junge Jude wünscht sich ein moderneres und vor allem selbstbestimmtes Leben. Seine zukünftige Frau möchte er selbst wählen können und in keine Ehegemeinschaft gezwungen werden. Seinen Entscheid durchzuziehen braucht Kraft, denn dabei helfen wird ihm niemand, er ist auf sich allein gestellt. Nur allzu leicht könnte es deshalb passieren, dass er von der Gemeinschaft, in der die Familie alles ist und wie von einem Kokon umhüllt wird, ausgeschlossen wird. Das ist ein hoher Preis, den er bezahlen müsste – und ob es den wert ist?

„Ein lebn lang hatte ich im glojbn gelebt, nur zwischen weissem Hemd eins, weissem Hemd zwej und weissem Hemd draj wählen zu können, und mir nie darüber gedankn gemacht. Nun mache ich mir welche. Farbige hemdn kamen darin vor. Und Jeans. Und Nichtjüdinnen in Jeans. Eine im Speziellen.“

Ein lesenswertes Buch, das nicht nur humorvoll ist, sondern auch nachdenklich stimmt. Ist ein modernes Leben möglich, ohne dass die Herkunft und Religion, die mit Traditionen und Regeln, die seit hunderten, ja tausenden von Jahren bestehen, verleugnet wird? Ein Stoff der zum Diskutieren einlädt.

Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Nach einem abgebrochenen Studium der Jurisprudenz arbeitete er als Texter in Werbeagenturen und als Reporter auf Redaktionen. Erste Beachtung als Autor erlangte er 1998 mit im Internet veröffentlichten Kolumnen. 2007 machte er sich selbstständig als Autor und Texter. Er lebt und arbeitet in Zürich.

Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse
Salis Verlag
288 Seiten
ISBN 978-3-905801-59-0

Besuchenswert ist auch die homepage des Autors
Interview und Video (Tages Anzeiger)
Jiddisch neu entdeckt (NZZ)

David Guterson – eine Lesung

David Guterson_Lesung

Kürzlich ist der fünfte Roman von David Guterson „Der Andere“ im Hofmann und Campe Verlag erschienen und schon sitzt der Autor für eine Lesung in Zürich.

Trotz des sommerlichen Frühlingabends ist das Publikum relativ zahlreich erschienen. Dafür bedankt sich David Guterson gleich vorweg, denn seit Sonntag weilt er bereits in der Stadt und hat gesehen, wie die Menschen sich draussen tummeln und es im Freien geniessen.

Der Gesprächsleiter, dessen Name ich nicht verstanden habe, weil er wie aus der Pistole geschossen kam, fragte David Guterson natürlich gleich, nach Büchern in seinem Leben. Der Autor erzählt, dass er in einem Haus mit vielen Büchern aufgewachsen sei, da die Mutter sehr gerne las. Als Junge interessierten ihn Bücher über Sitting Bull und andere historischen Figuren. Erst im Alter von zwölf, dreizehn Jahren begann Guterson auch Romane  zu lesen.

David Guterson_Lesung 4

Die Frage, wann David Guterson begonnen habe zu schreiben, musste ja kommen. Er habe erst mit Schreiben begonnen, als er schon über zwanzig Jahre alt gewesen sei. Viele Jahre verfasste er nur Kurzgeschichten und wagte sich erst im Alter von dreissig Jahren an den ersten Roman, der gleich ein Welterfolg wurde „Schnee der auf Zedern fällt“.

Short Stories sind wie ein Sprint, man könne keine Mittel- oder Langstrecke laufen, wenn einem vorzeitig die Puste ausgehe und einen langen Atem brauche es für einen Roman. Entweder man sei für den Roman geschaffen oder dann lasse man es halt bleiben.

David Guterson scheint zu den Langstreckenläufern zu gehören, oder zumindest zu den Mittelstreckenläufern, so wie seine beiden Protagonisten, die sich als Teenager bei einem Mittelstreckenlauf kennenlernen und trotz unterschiedlicher Familien beste Freunde werden.

Den Anfang seines Romans „The Other“, wie er im Original heisst, liest der Schriftsteller vor. Und dazu legt er seine Brille auf den Tisch, die er zuvor getragen hat. „Andere in meinem Alter setzen sich die Brille auf, ich setze sie ab“, meinte Guterson grinsend.

David Guterson_Lesung 3

Es ist schwierig für mich, dem ganzen Gespräch, das in englischer Sprache geführt wird, zu folgen, denn „Der Andere“ habe ich, ausser den Anfang, noch nicht gelesen. So waren mir einige Fragen überhaupt nicht verständlich, weil mir der Zusammenhang fehlte. Ich hätte es begrüsst, wenn der Gesprächsleiter das Publikum den Kontext zum Roman erklärt hätte. Eine längere Passage der deutschen Übersetzung las der Schauspieler Sebastian Arenas.

David Guterson_Lesung 1

Zum Abschluss konnte das Publikum Fragen stellen, nur waren das gerade einmal zwei und der Aussprache nach zu urteilen, kamen diese von Amerikanern. Unter anderem wird er gefragt, was er als nächstes plane. Er schreibe öfters Gedichte und Erzählungen und er hoffe, dass er nächstes Jahr ein Buch mit neuen Erzählungen veröffentlichen könne.

David Guterson meinte abschliessend, dass er seit Sonntag in Zürich sei. Er hat das traditionelle Frühjahrsfest „Sechseläuten“ also gleich zweimal miterlebt, nämlich den Kinderumzug am Sonntag und am Montag den Hauptumzug. Er hätte eine Menge über die Zünfte gelernt, die am Umzug eine wichtige Rolle spielen. Und er hätte je länger je mehr Fragen gehabt. Schliesslich bedankte er sich noch beim Übersetzer des Buches, Georg Deggerich, für dessen Arbeit. Er selber spreche nur wenig Deutsch, aber er sei sicher, dass Deggerich seinen Roman gut übersetzt habe.

Beim Büchertisch, in lockerer Atmosphäre, wurde das Wort dann doch noch an den Autor gerichtet, als er seine Bücher geduldig signierte. Ich habe einen äusserst sympathischen Mann getroffen und freue mich nun, einen weiteren Roman von ihm zu lesen.

David Guterson_Lesung 2

Mit Franz Hohler spazieren gehen


Im Jahre 2010 hat sich der Schweizer Autor Franz Hohler entschlossen, jede Woche einen Spaziergang zu machen. Herausgekommen ist ein Buch mit 52 Aufzeichnungen seiner Spaziergänge, die am 12. März 2010 beginnen und am 4. März 2011 enden. Kein Kapitel ist länger als drei Seiten.

Seine Spaziergänge führen an die unterschiedlichsten Orte. Ich würde behaupten, teilweise sind das schon Wanderungen, von den Routen und der Zeit her, aber nennen wir sie einfach Spaziergänge.

Der Leser sitzt bequem im Sessel und begleitet Franz Hohler auf seinen wöchentlichen Ausflügen. Diese führen oft von seinem Haus, im Stadtquartier Zürich-Oerlikon, u.a. zum Seebad Tiefenbrunnen, quer durch die Stadt, zu einer Matinée in einem anderen Quartier, oder in eine andere Gemeinde um Zürich, bsp.weise an den Egelsee, einem Weiher, mitten im Wald, auf den Skulpturenweg, zum Künstler Franz Weber. Dabei sind beachtliche Strecken zusammengekommen. Die Spaziergänge finden aber auch in anderen Gegenden der Schweiz statt, wie im Kanton Solothurn, wo er aufgewachsen ist oder im Tessin. Er ist unterwegs mit Schneeschuhen zu einer Alphütte und sieht auf dem Rückweg nur eine einzige Spur im Schnee, nämlich seine. Er läuft auf der Loipe im Oberengadin zum Morteratsch-Gletscher, um zu sehen, wie weit sich der Gletscher in den vergangenen Jahrzehnten zurückgebildet hat.

Irgendwann kauft sich Hohler einen Kompass und dann führen ihn die Spaziergänge von daheim in alle Himmelsrichtungen. Richtung Westen möchte er den Sonnenuntergang sehen und ist schlussendlich zurück bevor er diesen betrachten kann. Trotzdem hat er seiner Frau einiges zu erzählen. Im Osten ist er erstaunt, wie früh gewisse Büroangestellte schon am Computer sitzen und der Arbeit nachgehen und sieht um sechs Uhr früh die ersten Grossraumflugzeuge, die wie Rieseninsekten zur Landung ansetzen. Als er in Zürich Richtung Süden unterwegs ist, nascht er in einer Seegemeinde von Feigen, die über einen Gartenzaun hängen, also ist er im Süden angekommen.

Er ist alleine unterwegs oder mit seiner Frau, besucht mal Freunde oder auch Bekannte. Seine beiden Söhne begleiten ihn einmal in die Vergangenheit, auf den Spuren des Grossvaters bzw. Urgrossvaters. Sie gehen den Weg vom Wohnort des Vorfahren zu dessen Arbeitsstelle als Weber, ennet dem Rhein und müssen feststellen, dass die Fabrik da nicht mehr steht und dass der Arbeiter einen Weg von eineinhalb Stunden hin und eineinhalb Stunden zurück unter die Schuhsohlen nehmen musste. Dann begleitet ihn sein Vater nach Luzern, einmal gar ins Spital. Nach einer Operation muss sich der Autor einige Wochen schonen und unternimmt einen Spaziergang durch seine „Weltbibliothek“ daheim. Er ist ein aufmerksamer Betrachter seiner Umgebung. Was er auf gewissen Werbeplakaten und Schildern sieht, beschreibt er genauso, wie ein Denkmal oder einen gesprayten Spruch auf einer Hauswand, die Arbeiten auf einer Baustelle oder die Flaggen in den Schrebergärten. Zwischendurch wird auch gerastet und gepicknickt und damit der Leser, der einen Ort oder eine historische Begebenheit nicht kennt, wird dazu auch eine Erklärung geliefert.

Die Spaziergänge finden nicht nur in der Schweiz statt. Da marschiert er in Seoul, der Hauptstadt Koreas los, kaum ist er richtig angekommen oder er beschreibt, was alles auf dem„Königsberg“ läuft, dem Mont Royal in Montreal, Kanada. Als er von seinem Verlag an die Frankfurter Buchmesse eingeladen wird, findet er noch genügend Zeit, um über das Messegelände, zu anderen Ständen, einen Spaziergang zu machen.

Viele Orte sind mir bekannt, da Zürich meine Heimatstadt ist. Selbst mein Wohnort kommt im Buch vor, deshalb war es gleich nochmals so interessant, seine Beobachtungen nachzulesen. Die Berichte sind kurzweilig und stimmen manchmal nachdenklich, dann wieder sind sie amüsant und man kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Da für jede Woche des Jahres ein Spaziergang aufgezeichnet ist, könnte man sich vornehmen, jede Woche nur einen Text zu lesen und spaziert so mit den Augen durch die vier Jahreszeiten. Auch als Vorbereitung für eine Reise in die Region Zürich und die Schweiz, ist Hohlers Buch eine Alternative oder Ergänzung zu den üblichen Reiseführern. Nach der Lektüre bekommt der Leser Lust, ebenfalls die Welt zu erkunden, steht auf, zieht sich bequeme Schuhe an (sonst gibt’s Blasen an den Füssen!) und macht sich zu einem ersten Spaziergang auf.

Warum nicht gleich hier und jetzt beginnen? Es gibt manch Spannendes und  Aussergewöhnliches, auch ums Haus, zu entdecken, man muss nur mit offenen Augen und Ohren losmarschieren.  Das hat Franz Hohler wunderbar vorgemacht und mit diesem Buch bewiesen.

„Spaziergänge“ Franz Hohler
erschienen im Luchterhand Literaturverlag, München, 2012 (154 Seiten)

Frühlingsidylle

Ich wandere den Weg hinunter, neben mir fliesst ein Bächlein und legt seine ganze Energie in das Plätschern, als wollte es verkünden, dass der Frühling da ist.

Und tatsächlich, einige Schritte weiter lachen mir weisse Primeln aus einem Gartenbeet entgegen.

Wenig später lasse ich mich auf einer Bank am Dorfplatz nieder und verzehre mein Mittagsmahl. Ein Wasserstrahl ergiesst sich in den Brunnentrog aus dem Jahre 1816.

Die Sonne scheint mit all ihrer Kraft vom Himmel und wärmt mich. Noch vor zwei Wochen drehte ich eine Runde auf dem vereisten Weiher. Ist das nur ein Traum?

Es ist ruhig um mich her. Ich ziehe weiter, die Dorfstrasse entlang und nur zweihundert Meter entfernt stehe ich neben der meistbefahrenen Strasse Zürichs, die den idyllischen Namen Rosengartenstrasse trägt und wo der Verkehr vorbeirauscht. Demm Alltag und Lärm bin ich für einen Moment entschwunden und in das ehemalige Dorf Wipkingen abgetaucht und das mitten in der pulsierenden Stadt.

(Anmerkung: Wipkingen ist ein Quartier der Stadt Zürich und das einst selbständige Dorf wurde 1893 eingemeindet)

Literatour mit „Die Kranzflechterin“ von Hugo Lötscher

„Die Kranzflechterin“ des Schweizer Schriftstellers Hugo Lötscher (1929 – 2006), erschienen im Diogenes Verlag, haben wir uns beim letzten Lesezirkel-Treffen ausgesucht, nicht zuletzt, weil der Roman in Zürich angesiedelt ist.

„Jeder soll zu seinem Kranze kommen“, pflegte Anna zu sagen; sie flocht Totenkränze.“

Mit diesen Worten beginnt der Roman. Anna lebt in einem kleinen Ort im Schwarzwald, bevor sie nach Zürich aufbricht. Der Grund ist die geplatzte Hochzeit mit dem Steinacherfranz, der sie vor dem Altar sitzen lässt. Schwanger ist sie und macht sich, nach der Geburt ihres Kindes, mit einem Koffer und ihrer Tochter Richtung Schweiz auf.

am Hauptbahnhof kam Anna an

Im Arbeiter- und Ausländerviertel findet sie eine Bleibe bei ihrer Schwester und ihrem Schwager. Anna mietet sich ein Ladenlokal mit einem Zimmer und einer Küche dahinter, und hat vor, Gemüse zu verkaufen.

In der Luisenstrasse wohnte Anna

Anna kommt mit dem Leiterwagen oft an der Kaserne vorbei

Mit ihrem Leiterwagen, zieht sie auf den Grossmarkt und zu den Bauernhöfen in der Umgebung und richtet das Gemüse liebevoll zum Verkauf in ihrem Laden her. Ihre kleine Tochter sitzt oft zwischen dem Gemüse im Wagen.

„Als es greifen lernte, griff es nach Bohnen und streute sie auf die Strasse. Streckte das Kind die Arme zwischen dem Suppengrün aus, dann waren es zwei lebendige Lauchstengel,  die in die Luft ragten; und schlief es zwischen Blumenkohlköpfen, war das Kindergesicht so rund wie ein Blumenkohl; und wie der Blumenkohl ein Häubchen trug, trug auch Annas Kind ein Häubchen, nur dass der Blumenkohl, der Anna gehörte, manchmal weinte.

Die Idee mit einem Gemüseladen haben vor ihr schon etliche andere Einwanderer, nicht zuletzt die Italiener, und bald sattelt sie auf das Flechten von Totenkränzen um, als eine Kundin, die bestellten Kartoffeln nicht mehr will, denn ihr Mann ist gestorben.

Anna legt viel Gefühl in ihre Arbeit, die Kränze werden sehr persönlich und müssen zum Verstorbenen passen.

„Anna wollte sehen, wohin ihre Kränze kamen. Sie setzte sich für den Besuch des Hauptfriedhofes Sihlfeld den Hut mit den wippenden Kirschen auf. Das Portal liess sie erstaunen; solche Portale hatte sie bisher nur am Bahnhof in Stuttgart und am Bahnhof in Zürich gesehen.“

vor dem Friedhof Sihlfeld verkaufte sie ihre Kränze


Die geschäftstüchtige Frau zieht fortan an Allerheiligen vor den Friedhof, wo sie ihre Kränze aufstellt und an die Trauernden verkauft. Den erfolgreichen Tag beschliesst sie, indem sie alle Jahre den Kastanienbrater, den Totengräber und ihren eingemieteten Zimmerherrn zum Festschmaus einlädt.

Der Steinacherfranz sucht Anna noch einmal in Zürich auf, um sie erneut zu verlassen, indem er seine sehr persönlichen Spuren hinterlässt. Der erste Weltkrieg kommt und vergeht. Eine schwere Grippe, die wiederum viele Tote fordert, bringt Anna viel Arbeit und plötzlich hat sie zu wenig Kränze vorrätig. Ihre Tochter prügelt sie buchstäblich gesund, als Else sich auch ins Bett legt.

Die Glocken hörte sie vom Grossmünster

und auch vom St. Peter

Wir werden über die Jahre hinweg Zeugen der Wirtschaftskrise, die der schwarze Montag nach sich zieht, des ersten elektrischen Schalters in einer Wohnung und der Jahre vor dem 2. Weltkrieg. Die Welt wandelt sich und mit ihr auch Anna.

Es ist erstaunlich was Hugo Lötscher in diesen Roman, der gerade einmal 183 Seiten dick ist, alles packt. Das ganze Leben von Anna steckt zwischen diesen Buchdeckeln. Es ist sehr poetisch, wie er über das Gemüse schreibt und geradezu umwerfend, wie er Anna mit Else sprechen lässt, als das Mädchen zur Frau wird. Der Autor gibt einer Frau mit einem unehelichen Kind eine Stimme, zudem einer Immigrantin, zu einer Zeit, als es eine ledige Mutter noch um einiges schwerer hatte als heute. Anna muss Mutter- und Vaterrolle in einem übernehmen und oft Härte zeigen, wenn sie sich vielleicht lieber an einen Freund anlehnen und gehalten werden würde. Sie muss funktionieren. Deshalb gibt es in diesem Roman kaum Platz für grosse Gefühle. Anna ist eine starke Frauenfigur, eine Kämpferin, die uns die Geschichte ihrer Zeit mit einer Wucht näher bringt.

Nachdem ich den Roman gelesen hatte, habe ich mein ganz persönliches Projekt gestartet und mich auf die Spurensuche der Anna begeben. Ich habe die Original-Schauplätze besucht und fotografiert und gleichzeitig über die vielen Orte Historisches recherchiert und zusammengetragen. Meine Wanderungen führten mich, wie für Anna auch, zu Fuss quer durch die Stadt. Ich musste allerdings keinen Leiterwagen hinter mir herziehen. Die meisten Handlungsorte sind mir, seit meiner Kindheit vertraut, vor allem das Quartier Zürich-Aussersihl. Das Quartier der in- und ausländischen Einwanderer, wo Anna, die Protagonistin, gelebt hat, ist mir, durch die Jahre als Lehrling dort, noch sehr präsent und die Innenstadt, wo ich schon als kleines Mädchen an der Hand meiner Mutter, alles bestaunte und aufregend fand.

Meine Wanderungen waren spannend, ich habe gestaunt und geschaut, wie sich die Quartiere entwickelt haben, ob zum Guten oder Schlechten lassen wir hier im Raume stehen. Gebäude und Plätze haben sich teilweise stark verändert, wurden umgebaut und Einiges gibt es nicht mehr. So habe ich auch auf historische Fotos zurückgreifen müssen oder diese mit meinen Aufnahmen verglichen. Ich habe meine Stadt als „Literatour“ nochmals anders wahr genommen, viel gesehen und neu erleben dürfen, bin in Gegenden marschiert, die ich selten oder nie aufsuchen würde. 18 Kilometer zu Fuss sind es geworden, das Wetter hat an diesen drei Tagen immerhin mitgespielt, da bin ich schon sehr dankbar. Durch diese Wanderungen wird „Die Kranzflechterin“ noch lange in mir nachklingen und wahrscheinlich nie wieder vergessen gehen.