Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

„Diese Geschichte, die wir das Buch des Flüsterns nennen, ist nicht meine Geschichte. Sie begann lange vor meiner Kindheit, als man im Flüsterton sprach. Ja sie begann sogar lange bevor sie ein Buch wurde. Und begann auch nicht im Focșani meiner Kindheit, sondern in Siwas, in Diarbekir, in Bitlis, in Adana und in der Region Klikien, in Wan in Trapezunt, in allen Wilajeten des östlichen Anatolien, wo die Menschen meiner Kindheit geboren wurden, die zu den Helden dieses Buches zählen.“

Varujan Vosganian ist nicht nur Autor des vorliegenden Romans „Buch des Flüsterns“ sondern auch Politiker in Rumänien. Von 2007 bis 2008 bekleidete er das Amt des Finanzministers, heute ist er Wirtschaftsminister. Aufgewachsen ist er in Focșani, einer Stadt mit heute ca. 74‘000 Einwohnern und ca. 180 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bukarest gelegen.

Der Roman beginnt in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts, zurzeit als der Autor ein Kind ist. Etwa 39‘000 Menschen bevölkern die Stadt. Er hält sich gerne in der Nähe der Alten auf lauscht ihren Geschichten, nicht zuletzt auch den Erzählungen seines Grossvaters Garabet, der eine zentrale Rolle im Buch einnimmt. Er ist nicht nur Hüter vieler Namen und bewahrt für den einen oder anderen wichtige Zeugnisse auf, sondern er ist auch Fotograf. Die wichtigen Momente lassen die Armenier von ihm auf Fotos bannen.

„Ich spielte unter dem Tisch im Hof, wenn die Alten sich Geschichten erzählten oder schöne Lieder traurigen Inhalts summten … Schickt das Kind hier weg, sagte manchmal eine der Tanten. Lass es da, sagte Grossvater. Immer bleibt einer übrig, der erzählt. Vielleicht wird gerade er einmal der Erzähler sein.“

Was sich zuerst wie die Erinnerungen an eine Kindheit liest, entpuppt sich schon bald als die Geschichte eines ganzen Volkes. So nimmt mich Varujan Vosganian mit an ferne Schauplätze in Anatolien, in die Heimat seiner Vorfahren, wo im April 1915 Völkermord an den Armeniern begangen wurde, Unruhen jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang hatten. Vosganians Aufzeichnungen mäandern von einem Jahrhundert ins andere und wieder zurück, was das Lesen etwas erschwert. Er erzählt die Geschichten von Menschen, die den Genozid überlebt haben und darüber berichten können oder die noch zur rechten Zeit davor in den Westen flüchten konnten. Er nimmt mich mit auf den Todesmarsch von Sahag Seitanians Familie, durch die „sieben Kreise des Todes“, wie die einzelnen Stationen des Marsches von Anatolien bis zum Ziel in der Wüste Syriens genannt werden.

Die meisten Menschen haben diesen Marsch nicht überlebt. Sie wurden von ihren Bewachern in Höhlen getrieben, wo Feuer gelegt wurde und sie qualvoll verbrannten. Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, Männer erschossen und anschliessend in die Schlucht geworfen, wo sie im Fluss davontrieben und ihre Körper das Wasser rot färbte. In diesen Momenten wird das „Buch des Flüsterns“ zum „Buch des Grauens“.

„In Meskene, an der Grenzlinie des vierten Kreises, trafen die Konvois wieder auf den Euphrat, das bewegte Grab vieler Tausender Deportierter. An der Flussbiegung jenseits von Meskene wurden die Leichen aus dem Norden angeschwemmt, die von Fluten noch nicht unterspült und von den Fischen gefressen worden waren.“

Bei solchen Kapiteln stockt mir buchstäblich der Atem und ich halte mir die Hand vor den Mund, so entsetzt bin ich, was ich hier zu lesen bekomme.

Hunger und Durst quält die Menschen, lässt sie krank und schwach werden und so kommt es, dass verzweifelte Mütter ihre Kinder für einen Kanten Brot oder einen Schluck Wasser hergeben.

Auch jenen Menschen, denen die Flucht übers Meer nach Rumänien gelingt, sind noch längst nicht gerettet. Denn als der Kommunismus Einzug im Land hält, müssen viele wieder um ihr Leben bangen und verlieren ihre aufgebaute Existenz erneut. So passiert es auch Hartin Fringhian, den alle nur den „Zuckerkönig“ nennen. Er hat sich ein Imperium von Zuckerfabriken geschaffen und legt sein Geld in Aktien, Staatsanleihen und Immobilien an. Da er selbst keine Familie hat, nimmt er die Namen seiner Arbeiter in seinem Testament auf. Doch dann muss er vor der rumänischen Miliz in die Berge flüchten, wo er mehrere Jahre unter Hirten lebt. Am Leib trägt er einzig seinen Smoking, den er bis zur Rückkehr ins Tal nie ablegen wird. Er kehrt zurück zu einer seiner Fabriken, die längst dem Staat gehört und sammelt im Obstgarten Nüsse auf. Die Arbeiter werden ihn nicht an die Miliz verraten und empfehlen ihm, nicht wieder zu kommen. Auch deren Namen setzt Hartin in seinem Testament ein.

Der Alte beginnt ein Geschäft mit Nüssen, in dem er die Nüsse salzt und röstet und sie in den Kneipen oder nach dem Gottesdienst im Innenhof der Kirche an Armenier verkauft. Bis zu seinem Tod geht er diesem Handel nach und jammert keinen Augenblick über sein Schicksal. Er lebt sehr bescheiden fällt niemandem zur Last. Nach seinem Tod findet man genug an Ersparnissen bei ihm, so dass die Gemeinde nicht für sein Begräbnis aufkommen muss.

„Er knackte die Nüsse sehr vorsichtig mit einem kleinen Schusterhammer, den er sich von Anton Merzian ausgeliehen hatte, dann entnahm er ihnen das ganze Innere, die Hälften noch fest miteinander verbunden. Auch heute, da ich das Buch des Flüsterns schreibe, ein halbes Jahrhundert nach jenen armenischen Festen und den Gesprächen nach dem Gottesdienst, die von den Armeniern im Kirchhof stets noch in die Länge gezogen wurden, gibt es nicht wenige Bukarester, die sich noch gut an Hartin Fringhian erinnern. Wie er die Kirche betrat, aus der Manteltasche ein paar Kerzenstummel nahm, die er wahrscheinlich von Arsag dem Glöckner aus Focsani, bekommen hatte, sie anzündete und dann hinausging, um reglos am Ausgang des Kirchhofs zu verharren, allerdings auf der Hofinnenseite, damit er nicht von der Miliz verjagt werden konnte. Dort verkaufte er seine wunderbaren Nusskerne, rund waren sie wie Taubeneier.“

Eine andere Geschichte im „Buch des Flüsterns“ ist Virginica gewidmet, die keinen Mann, der an ihre Tür klopft, auswählt, um zu heiraten, sondern sich in einen Häftling verliebt, der Soldat in der Roten Armee ist. Ihm bringt sie das feinste Essen in die Garnison und erzählt ihm auf ihren bewachten Spaziergängen ihre Träume und Erlebnisse bis ins kleinste Detail. Obwohl sie weiss, dass der Mann Frau und Kinder hat, hält sie diese Tatsache von weiteren Besuchen nicht ab. Als der Soldat einige Jahre nach dem Krieg in einem Militärtransport in die Sowjetunion zurückkehrt, fliegt auch Virginica auf und muss selbst drei Jahre im Gefängnis absitzen. Damit sie ihrem Liebsten all die erlesenen Essenspakete bringen konnte, wurde sie kurzerhand zur Diebin.

Und so reiht sich eine Geschichte an die andere. Viele von ihnen sind erschütternd und verlangen einem sehr viel ab. Auch die armenischen Namen prägen sich nicht so leicht ein. Doch immer wieder gibt es auch poetische Momente, vor allem wenn der Autor über das Essen berichtet und wie es zubereitet wird. Das Rösten und Mahlen des Kaffees ist geradezu sinnlich und der Duft setzt sich in der Nase von ganz alleine fest:

„[…] Vor allem kauften meine Grosseltern keinen gerösteten Kaffee oder – Gott bewahre! -gemahlenen. Wir hatten eine Kupferpfanne, die vom vielen Rösten schwarz geworden war. Im Deckel befand sich ein bestimmter Mechanismus, den man mit einer Kurbel in Bewegung setzte und der dafür sorgte, dass die Bohnen gleichmässig geröstet wurden. Auf kleiner Flamme dauerte dieser Vorgang etwa eine Stunde. Alles was wir Kinder bekamen, waren die gerösteten Bohnen. Wir lutschten daran, als wären es Bonbons, und wenn das Aroma sich verlor, knackten wir sie mit den Zähnen auf und zerkauten sie. […]“

Es gab Momente, wo ich nahe dran war, das Buch zuzuklappen, um es nicht wieder zu öffnen und ich hätte mir gewünscht, wenn es etwas zäh wurde, dass es etwa hundert Seiten weniger gehabt hätte. Schlussendlich habe ich mich aber immer wieder überwunden, Seite um Seite mit diesen Menschen weiterzugehen, den Schmerz, den sie erlitten haben und der sich wie ein Mahnmal in schwarzen Buchstaben in die Seiten einbrennt, als Leserin zu ertragen. Hätte ich nicht weitergelesen, wären mir Menschen entgangen, wie der „Zuckerkönig“ Hartin Fringhian, dessen Geschichte so sehr zu Herzen geht. Ich hätte Grossvater Garabet nicht kennengelernt, dessen Tod mich zu Tränen gerührt hat oder ich hätte Misak Torlakian nicht getroffen, der seine Familie rächen wollte, gekämpft und die Freiheit erhalten hat und trotzdem einsam und verloren in der Welt herumirrte und verzweifelt hoffte, nach Jahren, als ein Flüchtlingsschiff in Constanța einlief, seinen kleinen Bruder wiederzufinden.

Doch, wer die Geschichten dieser und anderer Menschen des armenischen Volkes erfahren möchte und sich nicht scheut, sich auf eine lange Reise, zu begeben, wo sich tragische und erschütternde, schöne und poetische Momente die Hand reichen, muss das „Buch des Flüsterns“ selbst in die Hände nehmen, einmal tief Luft holen und sich dem Erzählstrom von Varujan Vosganian anvertrauen, der ein unglaubliches Stück Geschichte vor uns ausbreitet.

Die Originalausgabe „Cartea soaptelor“ erschien 2009, wurde von Ernest Wichner aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzt und war an der Leipziger Buchmesse für den Übersetzerpreis nominiert.

Varujan Vsoganian: „Das Buch des Flüsterns“
Paul Zsolnay Verlag Wien, 2013
511 Seiten
ISBN 978-3-552-05646-6

Hier gibt’s mehr zu Armenien:

Das Schweigen einer Familie

Der Sommer hat lange auf sich warten lassenMargarethe sitzt im Zug nach Deutschland. Sie ist anfangs neunzig und möchte noch einmal den Ort wiedersehen, an dem sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Ihre Tochter Lena, die in London lebt und die sie lange nicht mehr gesehen hat, wird sie in wenigen Stunden treffen. Es gibt einiges mit ihr zu bereinigen.

Auf der Fahrt in ihren Heimatort hat die alte Frau genügend Zeit, um über ihr langes Leben nachzusinnen. In der Nähe von Frankfurt, nach dem 1. Weltkrieg aufgewachsen, wird sie als zwölfjähriges Mädchen zu Verwandten nach Wien geschickt. Dort schliesst sie die Schule ab und lernt während des 2. Weltkrieges ihren ersten Mann Max kennen. Max wiederum verbrachte seine Kindheit in der Steiermark und wird nach den Arbeiteraufständen im Jahre 1934, zusammen mit seinem Bruder und anderen Jugendlichen, in die Sowjetunion geschickt. Sein geliebter Grossvater kommt während der Aufstände ums Leben. Die Jahre in der Sowjetunion, fernab seiner Mutter, hinterlassen tiefe Spuren in der Seele des Jungen. Auch der 2. Weltkrieg prägt sein späteres Leben. Er dient als Wehrmachtsoldat und wird nach Griechenland geschickt, wo er fürchterliche Gräuel-Taten mitansehen muss. Nach einer Kriegsgefangenschaft in England, kehrt er nach Wien zurück, wo Margarethe, die während Max‘ Abwesenheit als Hilfsschwester in einem Krankenhaus arbeitet, kurz vor Ende des Krieges, den absoluten Albtraum erlebt.

„Nichts hatte ich Max davon erzählt, wie die Männer mich festhielten und schlugen, wie einer nach dem anderen sein Geschäft brutal an mir verrichtete bis mein Geschlecht blutete und meine Beine wie gelähmt waren. Ich sehe die Bilder aus der Entfernung von fast siebzig Jahren an mir vorüberziehen und möchte nicht wieder in die Haut von damals schlüpfen und fühlen müssen, wie es wirklich war. Davor habe ich Angst, daran will ich nicht erinnert werden, aber ich weiss, all das liegt in meinem Körper begraben.“

Mit ihren fürchterlichen Kriegserinnerungen, die sie tief in ihrem Inneren aufbewahren und vor dem anderen nicht ausbreiten, wagen Margarethe und Max den Schritt in die Ehe. Lena, ihre Tochter, wird geboren und diese Tochter wird der Sonnenstrahl von Max. Nicht verwunderlich also, dass auch Lena sehr an ihrem Vater hängt und nicht begreift, als sie mit ihrer Mutter in eine andere Wohnung ziehen soll – ohne den Vater. Lena kann den Schritt ihrer Mutter nicht nachvollziehen und wird ihn ihr nicht verzeihen. Doch dass es der Wunsch des Vaters war, das verschweigt ihr die Mutter. Max, durch die Kriegsjahre traumatisiert, wird psychisch immer kränker und wird schliesslich in eine psychiatrische Klinik überführt.

„Mutter war nach meinem Empfinden schuld an seinem Suizid gewesen, und ich habe es ihr unmittelbar nach dem Abschied von Vaters Leichnam im Totenzimmer der Klinik unverblümt gesagt. Darauf hat sie mich angeschrien, ich solle meinen dummen Mund halten und mir eine heftige Ohrfeige versetzt. […] Jagbauer hatte am offenen Grab eine Rede gehalten, die mich traf, weil sie Vaters Eigensinn beschrieb, und er liess ihm auch seine Würde bei seiner letzten Entscheidung. Mit dieser Entscheidung war ich ganz und gar nicht einverstanden, denn Vater hatte sich in meinen Augen aus meinem Leben gestohlen. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich Mutters Nähe nicht mehr ertragen.“

Der Tod des Vaters verändert die Beziehung zwischen Lena und ihrer Mutter grundlegend. Als Lena als erwachsene Frau nach London zieht, nimmt auch die räumliche Distanz zwischen Mutter und Tochter noch zu. Lena litt schon als Kind darunter, dass ihre Mutter kaum je körperliche Nähe zuliess.

„Sie bewahrte immer Haltung, was für mich in manchen Situationen unerträglich war, hätte ich ihr doch gerne bereits als kleines Mädchen, wenn sie traurig war, zum Trost einen Kuss auf die Wange gedrückt. Das gelang mir nur selten, weil sie rasch wieder zur Tagesordnung überging, sich wegdrehte und mit gefasster Stimme etwas von sich gab, das ablenken sollte.“

Telefonate und gegenseitige Besuche enden immer wieder in heftigen Streitereien und werden zu einem Desaster. Den Versuch Lenas, durch künstliche Befruchtung ein Kind zu bekommen, lehnt Margarethe entschieden ab. Falsch gewählte Worte der Mutter führen zu tiefsten Kränkungen und lassen Lena sich nur noch mehr zurückziehen. Jede lebt ihr Leben und nun, im Spätsommer ihres Lebens, will Margarethe diese Differenzen ausräumen und sich bei ihrer Tochter entschuldigen.

Melitta Breznik hat einen Epochenroman geschrieben, der aufwühlt und ohnmächtig macht. Manchmal wäre ich am liebsten ins Buch reingehüpft und hätte die beiden Frauen schütteln wollen und ihnen zurufen mögen, dass sie miteinander reden sollten, denn sie haben doch nur sich. Wie können sich Menschen verstehen, wenn sie nicht miteinander über Erlebtes, auch Schreckliches, und über ihre Gefühle reden? Vielleicht wäre die Beziehung zwischen Mutter und Tochter anders und vor allem verständlicher verlaufen. Margarethes Generation, anfangs des letzten Jahrhunderts, musste meist selbst mit den Kriegserlebnissen fertig werden und gerade die Vergewaltigung war kein Thema, worüber sich eine Frau äusserte, denn zu beschämend und erniedrigend war solch ein Erlebnis. Keiner getraute sich Fragen zu stellen, keiner erzählte von sich aus. Es wurde kollektiv geschwiegen. So schwieg man auch in Lenas Familie und jeder litt für sich allein. Die Kriegserlebnisse haben so gravierende Folgen, die das weitere Leben von Margarethe und Max geprägt hat und nicht nur ihres – auch die Nachkriegsgeneration, zu der Lena gehört, hat mit den Folgen fertig zu werden.

„Ein Bild zeigte ihn in Uniform mit kurzen Hosen […] den Blick in die Ferne gerichtet. Vielleicht hatte er gerade an Mutter gedacht, was ich ihr auch sagte, worauf sie still wurde, um nach einer Weile, als wir stumm weitergeblättert hatten, zu sagen, dass er bevor er nach Griechenland verlegt worden war, ein unglaublich unbeschwerter und hübscher Bursch gewesen sei, die Sanftmut in Person, eine Beschreibung von Vater, die mir aus dem Mund von Mutter fremd klang. Mich erstaunte ihre Wortwahl, und ich beobachtete ihr Gesicht, das die Härte um den Mund verloren hatte, und verstand mit einem Mal, wie sehr meine Eltern einander verbunden gewesen waren.“

Die Familiengeschichte wird nicht nur aus der Sicht Margarethes erzählt, sondern auch Lena kommt zu Wort und ich erfahre wie die Beziehung zu ihrer Mutter aus ihrer Perspektive aussieht. Das Leben von Max, von dem weder Ehefrau noch Tochter allzu viel wissen, erfahre ich als Erzählform in dritter Person. Max Erlebnisse sind nicht weniger beklemmend. Die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts widerspiegelt sich in dieser Familie in all seiner Tragik. Ein leises aber starkes Buch, das mich sehr bewegt hat und in dem ich zudem über ein dunkles Kapitel der österreichischen Geschichte erfahre, das, wie die Autorin in einem Interview selber sagte, während ihrer Schulzeit nicht thematisiert wurde: dem Österreichischen Bürgerkrieg.

Melitta Breznik wurde 1961 in Kapfenberg, Steiermark, geboren. Sie studierte Medizin in Graz und Innsbruck und promovierte in diesem Fach. Als Oberärztin arbeitete sie an diversen psychiatrischen Kliniken und führte von 2004 – 2009 eine Praxis als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Chur.1995 erschien ihre Erzählung „Nachtdienst“, 2010 wurde ihr erster Roman „Nordlicht“ veröffentlicht. Sie erhielt 1996  den Kunstpreis der Stadt Innsbruck, 2001 den Literaturpreis des Landes Steiermark und 2002 wurde sie mit dem Werkbeitrag der Stiftung Pro Helvetia ausgezeichnte. Heute lebt sie in Basel und Zürich.

Melitta Breznik: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen
Luchterhand Verlag
Erscheinungsjahr 2013
251 Seiten
ISBN 978-3-630-87398-5

Darina, die Süsse

Darina, die Süsse

Darina, die Süsse, ist nicht etwa ein junges Mädchen, ein Kind oder eine junge Frau – nein, sie ist schon etwas in die Jahre gekommen, ihre Haare werden dünner, ihr Zopf ist grau. Und mit „die Süsse“ meinen die Dorfbewohner eigentlich, Darina, die Dumme, nur sprechen sie dies nie laut aus.

„Sie hatten weder Grips im Kopf noch Gott im Bauch, ihre Nachbarn, wenn sie dachten, sie sei dumm. Denn Darina war nicht dumm, süss war sie. […] Was war schon dabei, dass sie Dahlienknollen in eine Decke gewickelt hatte? Es war gerade Schnee gefallen, und der Frost hatte noch nicht nachgelassen. […] Hätte sie die Knollen etwa nackt durch die Kälte tragen sollen? Wasjuta trug ihren Enkel schliesslich auch nicht bloss in Unterhosen zum Kindergarten, sondern wickelte ihn erst in eine Decke, nahm ih dann auf und schuckelte ihn durchs Dorf. Was war eine Blume anderes als ein Kind?“

Solche und andere Gedanken macht sich Darina laufend über ihre Nachbarn. Tat der eine etwas Ähnliches wie sie, riss keiner das Maul auf und nannte ihn dumm, nur bei Darina. Darina hörte alles, aber sie sprach nicht mit den Menschen. „Worte konnten Schaden anrichten“, wusste sie, jedoch nicht mehr woher. Lieber sprach sie mit den Bäumen, den Blumen oder mit den Tieren. Sie litt fast täglich an fürchterlichen Kopfschmerzen und fand nur Linderung, indem sie bis über die Hüften ins Wasser des nahen Flusses stand und erst wieder herauskam, wenn sich der Eisenring, der sich um sie gelegt hatte, allmählich löste. Nur die Nachbarin Maria verteidigt Darina gegen das Gewäsch der Dorfbewohner und stopft so manches Lästermaul. Dann ist da noch Iwan, den alle nur Zwytschok – Nagler – nennen, da er Eisen und vor allem Nägel sammelt, um daraus Maultrommeln anzufertigen, die er dann auf dem Markt verkauft. Er schafft es, Darinas Zuneigung zu gewinnen und sich den Nachbarn erneut ein Grund bietet, ihre Mäuler zu zerreissen. Es kommt sogar so weit, dass er vor dem Gemeinderat antraben muss, um Red und Antwort zu stehen. Das bringt den armen Iwan dermassen in Rage, dass er für zwei Wochen in den Knast wandert und er versteht die Welt nicht mehr, als in Darina nach seiner Rückkehr wegschickt.

Der zweite Teil des Romans ist der Geschichte von Matronka und Mychajlo gewidmet, den Eltern von Darina. Das Zeitrad wird bis an den Anfang ihrer Liebe zurückgedreht. Sie erzählt den Alltag der Beiden, die sich selber genügen und sich freuen als ihre Tochter geboren wird. Wir schreiben das Jahr 1940, als Matronka plötzlich verschwindet, als sie mit den Schafen zum Flussufer des Tscheremosch geht.

Die Bukowina hat eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich. Der nördliche Teil gehört heute zur Ukraine, der südliche zu Rumänien. Das Tscheremosch-Tal liegt im Norden und der gleichnamige Fluss bildete von 1919 bis 1939 die Grenze zu Polen.

„Immer wieder geriet ihr Land in den Besitz eines anderen Staates wie eine willenlose Frau in die Hände eines geschickteren Mannes, und deswegen waren die Menschen an den Zwillingshügeln immer wieder und viele Jahre lang, aus denen manchmal Jahrhunderte wurden, durch eine Grenze mitten im Fluss getrennt. Den Fluss liessen solche Veränderungen unberührt.“

Maria Matios siedelt den zweiten Teil ihres Romans in dieser Zeit an, wo die Bewohner am Tscheremosch kaum noch nachvollziehen konnten, wer denn eigentlich gerade das Sagen hatte. Gehörten sie einst zur österreichisch-ungarischen Monarchie, waren sie plötzlich dem Königreich Rumänien zugeschlagen, dann gehörten sie kurz zu Polen und 1940 kamen die Sowjets und schliesslich quartierten sich vorübergehend auch die Nazis im Dorf ein.

Diese historischen Ereignisse werden geschickt im Roman eingebunden und mit dem Schicksal der Dorfbevölkerung und Darinas Familie verknüpft. Stück um Stück wird ein Puzzleteil ans andere gelegt, bis die ganze Tragödie in einem Gesamtbild vor einem ausgebreitet liegt. Trotzdem lässt Maria Matios humorvolle Momente einfliessen, bsp.weise, wenn die Dorfbewohner ihren Klatsch loswerden müssen und man kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Das Buch ist zum Teil harte Kost und lässt einem erschauern, doch es war für mich eine echte Entdeckung und ist eines meiner Literatur-Highlights dieses Jahres.

Maria Matios, geboren 1959 in Rostoky, in der Bukowina, lebt und arbeitet in Kiew. Sie zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautorinnen der Ukraine. Ihre Werke wurden in viele slawische Sprachen, aber auch ins Japanische und Chinesische übersetzt. Der Roman „Darina, die Süße“ wurde mit dem wichtigsten ukrainischen Literaturpreis, dem Schewtschenko-Preis, sowie als Buch des Jahres 2007 in der Ukraine ausgezeichnet. Bei den Parlamentswahlen 2012 kandidierte Maria Matios für die Partei UDAR (Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen) von Vitalij Klitschko. Im Rahmen ihrer politischen Tätigkeit macht sie auf fehlende demokratische Strukturen und Rechtsunsicherheit aufmerksam. Wegen ihres Einsatzes für Demokratie und Meinungsfreiheit sieht sich Maria Matios immer wieder staatlicher Willkür ausgesetzt.

Maria Matios: „Darina, die Süsse“
erschienen im Haymon Verlag, 2013
Übersetzung Claudia Dathe
231 Seiten
ISBN 978-3-7099-7006-5

Geschwister des Wassers

Gschwister des WassersNico, Antonio und Julia werden über Nacht zu Waisen, als ein Blitz ins Haus einschlägt und ihre Eltern tödlich trifft. Der Gutsbesitzer der nahen Kaffeeplantage, Geraldo, nimmt Nico zu sich, allerdings tut er dies nicht aus Nächstenliebe, vielmehr sieht er in dem neunjährigen Jungen eine billige Arbeitskraft. Die beiden jüngeren Geschwister werden zu französischen Nonnen ins Waisenhaus gebracht. Eine exzentrische und reiche Araberin ist an Julia interessiert, holt sie bei den Nonnen ab, nachdem sie einige Jahre eine „angemessene“ Erziehung genossen hat. Antonio hingegen will keiner, denn er ist ein Zwerg. Bei den Nonnen hat er es gut und als er etwas älter ist, geistert er heimlich durch die Räume der Klosterfrauen und steckt seine Nase in die Unterwäsche in den Kommoden. Nico wie auch Julia werden zwar ein Dach über dem Kopf haben, aber schamlos ausgenutzt. Ihre engsten Bezugspersonen sind die Haushälterinnen. Bei ihnen finden sie Geborgenheit und Verständnis und werden schon einmal vor ihren „Besitzern“ geschützt, denn was sind sie anderes als deren Sklaven.

„Julia bewohnte ihr Zimmerchen im Nebengelass mit demselben Widerstand, mit dem sie auch das Waisenhaus bewohnt hatte. Des Gesicht lag nie ganz auf dem Kissen auf, zwischen ihr und der Umwelt stets eine kleine Lücke. Sie durfte sich im Haus nur mit Erlaubnis von Leila, ihrer Adoptivmutter, bewegen. Sie ass in der Küche und musste sich abends auf ihr Zimmer zurückziehen.“

Getrennt voneinander werden die Geschwister erwachsen und erst als Nico heiratet, gibt es ein Wiedersehen mit seinem Bruder Antonio. Julias Adoptivmutter hingegen verweigert ihre Erlaubnis, ihre Tochter zur Hochzeitsfeier fahren zu lassen. Heimlich verlässt sie mit dem Geld eines Gönners das Haus und macht sich trotzdem auf die Reise, die auf einem Busbahnhof endet. Während die Reisenden in alle Richtungen aufbrechen, arbeitet Julia eine Zeit lang als Toilettenfrau.

Die Nonnen, die Antonio zur Hochzeit begleitet haben, kehren ohne ihren Schützling ins Waisenhaus zurück. Geraldo ist an Antonio als Arbeitskraft nicht interessiert und hält ihn wegen seiner Statur für einen Dummkopf. Deshalb hilft der klein gebliebene Bruder seiner Schwägerin im Haushalt, während Nico weiterhin seine Arbeit auf der Kaffeeplantage verrichtet. Eines Tages herrscht grosse Aufregung unter den Bewohnern des Tales, als die Botschaft verkündet wird, dass sie ihre Häuser verlassen müssten. Ein Staudamm soll gebaut und die Serra Morena überflutet werden. Die Elektrizität wird die Häuser erhellen, die Wirtschaft ankurbeln und Wohlstand bringen.

„Das Unternehmen würde ihnen die Ländereien abkaufen und den Bau neuer Häuser in der Stadt ermöglichen. Die Zukunft war gekommen.
„Wo kommt das Wasser her?“
„Wie viel Wasser hat in dem Tal Platz?“
„Wird es unsere Häuser überfluten?“
„Mein Haus verlass ich nicht mal als Toter.“
Der Mann hinterliess die Adresse, unter der sie den Preis für ihre Häuser aushandeln konnten, und verabschiedete sich.
„Ich ertrinke zuerst, weil ich kleiner bin“ sagte Antonio.“

Während die halbe Bevölkerung umgesiedelt wird und Nico mit seiner Familie auf die Hügel in ein neues Haus zieht, weigert sich nur einer, sein Land zu verlassen: Eineido gibt sein Haus erst auf, als die Flutwelle kommt.

Andréa del Fuego beschreibt in ihrem Debütroman mit grosser Lakonie über einen Landstrich Brasiliens und seiner Bevölkerung, anfangs des 20. Jahrhunderts. Dabei zeigt sie ungeschönt den harten Alltag der armen Bauern, die von den Grossgrundbesitzern abhängig sind und bis aufs Blut ausgesogen werden. In dem die Autorin die verstorbene Mutter Geraldos als Geist durch die Handlung schweben und lässt, erhält der Roman auch etwas Magisches und Phantastisches und lässt ihn eine ganz eigene Atmosphäre ausstrahlen.

„Zu diesem Zeitpunkt hatte Geraldina bereits ihre Autonomie und ihren Verstand wiedererlangt. Noch immer in der Lampe, hörte sie den Namen des Sohnes und erzitterte bei der Nennung ihrer Brut. Sie war um die Glühspirale gewickelt und breitete sich nun langsam aus, durchdrang das feine Glas der Glühlampe. Sie mischte sich unter die Luft, ohne je von jemandem im Wohnzimmer eingeatmet zu werden. Substanzen unterscheiden sich durch Zahlen, sie war gerade, die Luft ungerade. Die Lungen erkennen das.“

Die Autorin versteht es, mich zum Schmunzeln und Staunen zu bringen, lässt mich aber gleichzeitig auch etwas ratlos zurück, denn einige Szenerien muten für mich märchenhaft an und ich weiss nicht so genau, was ich damit anfangen soll. Trotz dieser Unsicherheit habe ich mich in den Sog der Erzählung ziehen lassen, denn die Sprache hat mir sehr gefallen, die durchaus auch poetische Momente hat. Aus diesem Grund, empfehle ich diese neue Stimme aus Brasilien gerne weiter und wer die diesjährige Frankfurter Buchmesse besuchen wird, kann Andréa del Fuego vielleicht bei ihrer Lesung kennenlernen.

Andréa del Fuego wurde 1975 in São Paulo, Brasilien, geboren und studierte Journalismus. Sie ist als Fimproduzentin tätig und arbeitet für das literarische Fernsehformat Entrelinhas. Sie hat ausserdem mehrere Kinderbücher veröffentlicht. Für ihren Debütroman „Geschwister des Wassers“ erhielt sie 2011 den José Saramago Preis und war Finalist des Prêmio São Paulo de Literatura 2011 sowie des Prêmio Jabuti 2011. Andréa del Fuego lebt in São Paulo.

Andréa del Fuego: Geschwister des Wassers
erschienen im Hanser Verlag, 2013
Übersetzung Marianne Gareis
208 Seiten
ISBN 978-3-446-24331-6

Meine Mutter ist ein Fluss

Meine Mutter ist ein Fluss

Die Ich-Erzählerin, im Debütroman von Donatella Di Pietrantonio, erzählt während den Besuchen bei ihrer Mutter deren Lebensgeschichte. Die Mutter leidet an Demenz und langsam frisst die Krankheit ihre Erinnerungen und ihre Selbständigkeit auf. Ihre Tochter wird zu ihrem Gedächtnis und mit ihren eigenen Geschichten und denen die ihr einst ihre Mutter erzählt hat, versucht sie eine Brücke zu ihrer Mutter zu schlagen und zu ihr vorzudringen.

Esperina Viola, wurde im Jahr 1942 geboren. Mit vier Schwestern wächst sie in einem kleinen Dorf in den Bergen der Abruzzen auf. Die Bauernfamilie bewirtschaftet ihren Hof und das Land. Ihr Leben ist entbehrungsreich, die Arbeit ist hart.

Mit achtzehn Jahren heiratet Esperina Cesare und und wohnt erst bei den Eltern und dann bei den Schwiegereltern, bevor sie sich einen eigenen Hof leisten können, der noch während Jahren verschuldet ist. Die Schwestern leben mit ihren Familien nur einen Steinwurf entfernt. Die Verwandtschaft die so nah ist, wird manchmal zur Enge, denn nicht nur freudige Momente sind ihre Begleiter, sondern auch Streitigkeiten.

Karger Boden ist zu bewirtschaften, der wenig hergibt, so dass die Männer irgendwann gezwungen sind, Arbeit in der Fremde zu suchen. Sie ziehen als Saisonniers in den Norden und kehren erst nach Monaten im Ausland zur Familie zurück.

„Unsere Emigranten waren Saisonarbeiter: Sie kamen vor Weihnachten zurück und brachen im Februar wieder auf, nach Deutschland oder in die Schweiz. In den letzten Januartagen verschlechterte sich die Stimmung im Haus merklich, weil alle auf den neuen Vertrag warteten, ein gelbes Blatt mit deutschem Text, von dem wir nur das Datum verstanden, an dem er sich in der Farik einfinden musste. Grossvater Rocco war nicht sehr begeistert von diesen europäischen Ländern, er hätte Amerika gewählt und hat stets beklagt, dass es in der Familie nicht wenigstens einen „Merikaner“ gab.“

In dieser archaischen Welt bleibt kein Platz für Gefühle und Zärtlichkeit, so auch nicht zwischen Esperina und ihrer Tochter. Das macht der Tochter auch heute noch zu schaffen, aber für Vorwürfe ist es zu spät und ein offenes Gespräch zwischen Mutter und Tochter wird es nicht mehr geben.

„Ich kam nicht als erste in ihren Gedanken, und das konnte ich nicht ertragen. Als Erwachsene habe ich es ihrer Geschichte zugeschrieben, aber ich habe nicht genug daran geglaubt. Für mich hätte sie ungehorsam sein müssen, mich lieben gegen alle. Partisanin sein. Stattdessen waren da das Heu, der reife Weizen, das hungrige Vieh.“

Donatella Di Pietrantonio hat ein sehr poetisches und sensibles Buch geschrieben, ohne sentimental oder kitschig zu werden. Sie beschreibt auf eindringliche Weise das harte Leben von Bauernfamilien in den Abruzzen, einer Region, die von Armut geprägt war und wo ein Überleben ohne den Zusammenhalt der Familie und der Verwandten kaum möglich gewesen wäre. Der Autorin ist ein leises Buch, aber ein grossartiger Roman gelungen, den ich nur empfehlen kann.

Donatella Di Pietrantonio wurde in Arsita, einem kleinen Dorf in den Abruzzen geboren und lebt heute in der Nähe von Pescara. Ihr Debütroman gewann kurz hintereinander mehrere renommierte italienische Literaturpreise.

Donatella Di Pietrantonio: „Meine Mutter ist ein Fluss“
erschienen im Kunstmann Verlag, 2013
Übersetzung Maja Pflug
171 Seiten
ISBN 978-3-88897-817-3